Musik

Mit dem Herz auf der Zunge

Teile des Hamburger Hafens und die Elbe im Licht der untergehenden Sonne.
Der Hamburger Hafen und der angrenzende "Kiez" sind das Herz und die Seele der Stadt © picture alliance / dpa
Von Vincent Neumann · 27.08.2014
Hamburg ist stolz auf seine musikalische Tradition. Den Hafen, wo früher Seemannslieder gesungen wurden, gibt es kaum noch, an den Landungsbrücken spielen Hamburger Bands inzwischen Hip Hop, Funk und Soul - ein Blick in die hanseatische Musikseele.
Stefan Gwildis. Sänger, und - wie er betont - Ur-Hamburger: Dritte Generation.
"Das wollen wir ja mal festhalten!"
Gibt es ihn denn, den typischen Hamburger Sound?
"Den gibt's. Und zwar kann man den ganz gut hören, wenn man hier in Hamburg an die Landungsbrücken geht."
Auch dieser Mann singt in Hamburg und über Hamburg und - ganz besonders auch über den Hamburger Hafen. Jochen Wiegandt: Liedermacher und Liedersammler - in einer Stadt, die schon immer stolz war auf Ihre Tradition und ihre große Musikgeschichte.
"So, wie lautet jetzt die Frage?"
Liedgut vor dem Aussterben bewahren
Die Suche nach Hamburgs musikalischer Identität, nach dem typischen Hamburger Sound, beginnt in Hamburg Langenhorn, in der Küche von Jochen Wiegandt. Auf dem Tisch noch die morgendliche Tasse Kaffee, dahinter der sympathische Mittfünfziger mit seiner antiken Hamburger Waldzyther, und darüber die große, weite Welt: Alle drei Minuten verfehlt ein Tiefflieger das Haus nur knapp und landet stattdessen auf dem nahe gelegenen Flughafen. Doch das bringt einen echten Hamburger wie ihn nicht aus der Ruhe. Fast stoisch berichtet er auch über seine mühevollen Versuche, die weit verzweigten Wurzeln des Hamburger Liedgutes vor dem Absterben zu bewahren.
"Auf der Reeperbahn nachts um halb eins - jaaa ... Erste Strophe. Zweite schon nicht mehr. Also eigentlich überall erste Strophe, erste Zeile geht noch, dann Refrain, und dann versiegt es langsam. Und dann komm ich und helf' dann aus."
Als Hamburger Musiker und Volksliedforscher hat es sich Jochen Wiegandt zur Aufgabe gemacht, die große Hamburger Musiktradition - um in der Sprache der Stadt zu bleiben - nicht absaufen zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen:
"Zum Beispiel diese Aktion mit 'Singen Sie Hamburgisch?', die wir jetzt gerade laufen haben. Da sind wir auf die Straße gegangen und haben die Leute gefragt: Was kennen Sie an Hamburger Liedern? Und dann kam natürlich 'Reeperbahn' und Lotto King Karl - 'Hamburg meine Perle', so was alles. Man konnte es an einer Hand abzählen, was da immer kam. Und sobald man ein bisschen in die Tiefe ging und fragte: Kennen Sie denn nicht dieses oder jenes noch - ne, da war im Grunde auch kein Interesse. Ne, kennen wir nicht und wollen wir eigentlich auch nicht. Und wenn dann junge Leute gefragt wurden; die haben sich dann irgendwie auf Titel gerettet, die sie nun liebten, und von denen ich dann natürlich überhaupt keine Ahnung hatte, das war ja klar. Da muss ich passen. Jan Delay kann ich nicht singen, und will ich auch nicht."
Dabei hat sich doch auch und gerade Jan Delay um die Hamburger Musikszene verdient gemacht. In einem Interview sagte der momentan wohl erfolgreichste Hamburger Sänger sogar einmal, die Stadt habe seine Musik komplett beeinflusst - gerade wegen des Hafens und der daraus resultierenden Toleranz gegenüber Subkulturen.
Und welche Antwort gibt der Hamburger, wenn man ihn auf der Straße nach der typischen Hamburger Musik fragt?
"Keine Ahnung. Nö, mir fällt grad nichts ein."
"Ja, ich mein, so nordische Sachen, Fishmob oder so, aber Jan Delay finde ich furchtbar ... Ne, sagen Sie mal!?"
"Oldtime-Jazz, weil ich das seit meiner Kindheit von meinem Vater gehört hab, und weil mein Vater in Hamburg groß geworden ist und der Louis Armstrong noch gehört hat in Hamburg."
"Hamburgische Musik? Keine Ahnung"
"Es kommt drauf an, zu welcher Jahreszeit - wenn's so leicht gen Winter geht, dann ist immer noch Oldtime-Dixieland die richtige Musik für Hamburg."
Auf Hans Albers und Hein Köllisch folgt die "Hamburger Schule"
Repräsentativ ist diese Umfrage natürlich nicht, aber sie zeigt doch eines sehr deutlich: Eine dominierende Richtung in der Hamburger Musikszene scheint es momentan nicht zu geben. In den 90er-Jahren wurde Hamburg als Deutschlands Hip-Hop-Hauptstadt bezeichnet. In den 80ern machte sie durch die Entwicklung der Maßstäbe setzenden Musikbewegung der "Hamburger Schule" von sich reden, und davor wurde sie von lokalen Größen wie Hans Albers oder Hein Köllisch geprägt. Heute ist die Musikszene der Hansestadt eher breit aufgestellt. Masse statt Klasse, könnte man meinen, doch der Kulturjournalist Joachim Mischke sieht gerade diese Vielfalt als Chance für Hamburg.
"Ich glaube, momentan ist es die Unübersichtlichkeit und die Vielfalt. Also es gibt keinen klaren Klassenbesten in dem Sinne, wo man jetzt sagt: Da ist vorne, sondern es gibt ganz viele unterschiedliche Richtungen. Es gibt die Elektro-Frickler, es gibt die Gitarren-Bands, es gibt die freundlichen Songwriter-Duos wie "Boy", es gibt alles, was mit dem Hip Hop zu tun hat, und das, finde ich, ist das Tolle dabei - dass man nicht sagen muss: Hamburg steht jetzt ausschließlich für Dieses oder Jenes, sondern dass man wirklich einen bunten Teller hat und ne große Auswahl und man sagen kann: Guck mal an. Das kommt alles von hier und das passiert alles hier. Die Clubs merken das, dass es interessante Dinge gibt, und die Szene ist, glaube ich, einfach unglaublich vielfältig."
In seinem Buch "Hamburg Musik!" hat Joachim Mischke 300 Jahre Musikgeschichte der Hafenstadt Revue passieren lassen, von Telemann bis Tocotronic. Sein Fazit: Hamburg war und ist noch immer eine echte Musikstadt.
Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow macht jetzt auch in dem Projekt Phantom/Ghost Musik.
Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow© dpa / picture alliance / Daniel Karmann
"Ach, ich glaub schon, dass die Stadt weiß, was sie an der Musik hat. Sie muss es sich bloß immer öfter mal selber sagen, wie spannend das hier alles ist."
Oder sie muss sich von jemandem wie Mischke daran erinnern lassen ...
"Es gab ja Zeiten in den letzten Jahren, wenn man da in die Charts geguckt hat und auf das, was interessant war, war das durch und durch von Hamburg besetzt. Auch all das, was dann passiert ist mit Kettcar, Tomte, mit Bands wie Fettes Brot natürlich und Tocotronic - also viele aus dieser Schlaumeier-Ecke, angenehm formuliert, kommen halt von hier oder haben sich hier ihren Namen gemacht, und auch wenn die dann teilweise in Berlin sind, oder wieder zurückkommen, ist das schon ein ganz kreatives Pflaster."
Gibt es noch die musikalische Keimzelle?
Widerspruch kommt erstaunlicherweise ausgerechnet aus der Schlaumeier-Ecke.
"Diese Keimzelle, die gibt's in Hamburg gar nicht mehr so."
Sagt Stephan Rath, Manager von Tocotronic - Mitte der 90er-Jahre eine der zentralen Bands der sogenannten Hamburger Schule und im letzten Jahr erstmals mit einem Album an der Spitze der deutschen Charts. Diesen Aufstieg verdanken sie dem Hamburger Independent-Label Buback. Vor fast 25 Jahren startete man ganz klein am Hamburger Fischmarkt. Inzwischen hat man neben lokalen Punk- und Jazzbands auch zahlreiche erfolgreiche Künstler hervorgebracht - darunter auch Jan Delay. Und die Büroräume wuchsen mit: Vom Fischmarkt ist man inzwischen in die Nähe der Großen Freiheit gezogen - jedoch für ein Independent-Label stilsicher über einen Discount-Supermarkt.
Doch trotz der positiven Entwicklung des Hamburger Labels beurteilt Stephan Rath die Perspektiven der dortigen Musikszene eher zurückhaltend.
"Also es gibt natürlich noch immer nach wie vor interessante Bands aus Hamburg, aber es ist jetzt nicht mehr so Hamburg-spezifisch. Weil viele Sachen, die es heute auf dem Markt gibt, die kommen aus Berlin, die kommen aus Wien und sind irgendwie Hamburg-Sound-like. Nur die sind natürlich dann auch ein bisschen verwässert mit dem eigenen Lokalen."
Ähnlich sieht das Thorsten Seif - gebürtiger Ulmer - aber inzwischen Geschäftsführer des Hamburger Labels Buback.
"Ich weiß, glaub ich, woran das liegt. Also, das hängt damit zusammen, dass junge Leute, wenn es nicht ums Studieren geht, sondern einfach darum geht, wenn man vom Land in die Stadt will, aus ganz Deutschland sich nicht mehr unbedingt Hamburg aussuchen. Das hängt mit überhöhten Mieten zusammen - die Lebenshaltungskosten in Hamburg sind einfach sehr, sehr hoch, vor allem, wenn man als junger Mensch auch den Anspruch hat, möglichst zentral zu wohnen und nicht irgendwie in einem Vorort.. Und ich glaube schon, dass das der Grund ist, warum Hamburg nicht mehr so Anziehungspunkt ist oder Anziehungsstadt für junge Leute aus ganz Deutschland."
Stephan Rath: "Ich hab das eben auch grad ganz kurz überlegt, ob das tatsächlich das Problem ist, dass es halt nicht mehr diese Zentren gibt in dem Sinne, dass sich da Leute treffen oder austauschen. Aber ich hab auch mal mit verschiedenen Künstlern aus der Hamburger Schule gesprochen genau über das Thema, und viele erzählten mir: Es gab eigentlich überhaupt keinen Austausch in dem Sinne. Also das fand ich auch ganz interessant tatsächlich. Das glaube ich zwar nicht, aber natürlich beäugten sich die Bands damals rechts und links: 'Was macht denn der?' und 'Das ist ja interessant' und so was. Man ging dann vielleicht auch mal auf die Konzerte anderer Bands und guckte, was so die Konkurrenz machte. Aber ich hab auch eben echt überlegt: Diese Zentren, diese besonderen, ich sag mal Hang-Outs - gibt's die nicht mehr? Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Klar, so Szenen zerfasern natürlich auch relativ schnell, und es gibt wahnsinnig viele Dinge mittlerweile in Hamburg, die so passieren. Ich denke auch, dass es so ein bisschen an dem fehlenden Raum liegt, dass man sich den einfach nicht mehr leisten kann, und die Leute nicht von Bielefeld nach Hamburg ziehen, oder von Emden nach Hamburg, sondern direkt nach Berlin."
Berlin ködert den kreativen Nachwuchs
Berlin. Nach musikalischen Schwergewichten wie Universal oder auch dem Bundesverband Musikindustrie soll die Hauptstadt nun also auch den kreativen Nachwuchs ködern. Das Konkurrenzdenken ist in der Hamburger Kulturszene inzwischen zum festen Bestandteil geworden. Denn in Berlin scheint es noch zu geben, was der Hamburger Musik in den letzten Jahren abhanden gekommen ist.
"In Berlin kannst Du mal eben irgendwie ne Party aufziehen in einer Fabrikhalle, weil da der Raum da ist. Das ist hier gar nicht mehr möglich, hier ist Subkultur viel, viel schwieriger zu organisieren."
Thorsten Seif: "Da geht schon was. Es ist ja nicht so, dass Hamburg komplett am Boden ist. Es gibt immer noch eine umfangreiche Live- / Clubkultur et cetera, aber halt alles zu einem anderen Preis als in anderen Städten."
Abgefahren ist der Zug für Hamburg aber noch lange nicht. Denn die Hansestadt hat etwas zu bieten, bei dem andere Städte wie Berlin nicht mithalten können: Einen internationalen Hafen und alles, was sich in seinem Umfeld abspielt - gerade Mitte des letzten Jahrhunderts ein Katalysator für die florierende Musikszene der Hansestadt.
Joachim Mischke: "Es hat natürlich so ein Flair von großer weiter Welt, Sehnsucht und so weiter und so fort, aber ich glaube nicht, dass jetzt die Musikszene immer um Inspiration zu kriegen sich an den Hafenrand gestellt hat, um nachzusehen, ob da noch alle Schiffe da sind."
Nicht die gesamte Musikszene, aber vielleicht unterschätzt Joachim Mischke in diesem Fall die Anziehungskraft der Hamburger Waterkant für die kreative Szene.
Stefan Gwildis: "Wer diese Stadt verstehen will, muss einfach mal zum Hafen gehen und sich den Sound des Hafens anhören."
Im Gegensatz zu vielen seiner in Hamburg erfolgreichen Musiker-Kollegen ist Stefan Gwildis ein waschechter Hamburger.
"Wenn man schon nicht an den Hafen geht, dann sollte man in den großen Saal des Hamburger Rathauses gehen. Da gibt's ein Bild, und zwar ist es das Bild des Hafens. Es ist der Strom, der in Richtung Elb-aufwärts geht, und Du merkst diese Power und diese Macht, die damit zu tun hat."
Stefan Gwildis singt nicht nur über Hamburg und seinen Hafen - er kennt ihn auch aus eigener Erfahrung.
"Es gab ja gerade jetzt den Deutschen Radiopreis in Schuppen 52, und ich fand das in sofern lustig, weil ich hab Ende der 70er-Jahre ne ganze Menge im Hafen gearbeitet, und hab da vom Schuppen 52 immer große Ballen Katzenfell abgeholt. Aber in der Arbeit damals, da triffst Du ja im Hafen, wenn Du da arbeitest, aus aller Herren Länder Menschen. Da hab ich ganz lustige Menschen kennengelernt. Im Hafen ist übrigens auch immer viel gepfiffen worden witzigerweise bei der Arbeit. Das hat ne Menge damit zu tun, wie ich die Dinge auch sehe und wie ich das auch betrachte.
Damals, als ich da gearbeitet hab, war das gerade der Übergang von Stückgut-Verkehr auf Container-Verkehr, und damals konnte man wirklich noch Säcke schleppen da. Das gibt's kaum noch, insofern weiß ich nicht, wie sich die Arbeitssituation jetzt so ausmacht."
Der Hafen machte die Musik
Auch der Hamburger Hafen kann dem Strom der Zeit nicht widerstehen. Die gläserne Hafen-City verdrängt mehr und mehr das traditionelle Flair der Speicherstadt. Wie Stefan Gwildis blickt daher auch Jochen Wiegandt als Ur-Hamburger Künstler etwas wehmütig zurück auf die "gute, alte Zeit" - die Zeit, als die kulturelle Vielfalt und der besondere Ton im Hafen die Musik Hamburgs stark beeinflussten - und nicht zu vergessen das Plattdeutsche.
"Sonst warst Du im Hafen nichts. Wenn Du das nicht konntest, konntest Du da gar nicht anfangen zu arbeiten. So, und was ist heute? Heute spricht überhaupt kein Mensch mehr Plattdeutsch. Englisch ist die Sprache, und indem das weggebrochen ist, ist natürlich auch ein Stück Tradition weggebrochen. Die Zeitläufe sind viel kürzer geworden, Ruhezeiten gibt's nicht mehr so in dem Sinne, wie es früher war - da singst Du auch nicht mehr. Da hast Du was anderes zu tun. Also, wenn es so etwas gegeben hat wie eine Hamburgische Musik, dann hat es sie als Typikum in der Vergangenheit gegeben, als Großstadtmusik. Und diese Großstadtmusik ist im Moment am Aussterben. Das heißt, wenn die Generation, die jetzt 60, 80 ist, ausgestorben ist, dann bleibt von dieser alten Musik nichts mehr übrig.
Deichkind
Deichkind - auch ein musikalisches Gewächs aus Hamburg© dpa / picture alliance / Sven Hoppe
Aber was bleibt dann noch von der großen Hamburger Musiktradition? Was unterscheidet die Musik in der Hansestadt tatsächlich noch von der, anderer Großstädte, wie München oder Berlin? Stefan Gwildis macht Soul-Musik, Jan Delay hat den Funk in Deutschland wieder salonfähig gemacht, und Bands wie Fettes Brot feiern mit Gute Laune-Hip Hop große Erfolge. Doch könnte die gleiche Musik nicht auch in anderen Region Deutschlands entstehen?
Wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema gibt es in Deutschland praktisch nicht. Klaus Frieler, Musikgutachter und Dozent am Musikwissenschaftlichen Institut in Hamburg, erläutert, wie so ein Forschungsprojekt aussehen könnte.
"Letztlich läuft es immer darauf hinaus: Du nimmst Dinge, beschreibst sie durch zehn bis 20 Eigenschaften, und dann kann man alle danach aufschlüsseln. Ganz simples Beispiel: Ich nehm den Output der Hamburger Musiker der letzten zehn Jahre und den Output der Münchner Musiker der letzten zehn Jahre und den der Berliner und mal mir einfach nur die Tempi auf. Und da könnte man zum Beispiel feststellen: Weil halt die norddeutsche Mentalität so relaxed ist, zeigt sich halt: Der Mittelwert der norddeutschen Musik ist halt nur 115 bpm und beim Bayern ist es 120 bpm. Und wenn man ganz viele Daten hat von mehreren Tausend Stücken, dann kann man auch statistisch signifikant sagen: Da ist ein Unterschied."
Bis jetzt nur Theorie und allein stehend auch nicht besonders aussagekräftig, doch in anderen Ländern gibt es bereits vergleichbare Studien.
"Die Finnen haben das mal gemacht mit finnischen Volksliedern. Die haben halt die Volkslieder hergenommen und die nach verschiedenen Charakteristika Tempo, Tonart und so was sortiert, und da zeigte sich zum Beispiel ganz klar, dass die in Ost-Finnland mehr Moll benutzen als in West-Finnland. Auf dem Wege könnte man tatsächlich rangehen und versuchen, da unten lokale Unterschiede zu finden. Da das jetzt nicht so eine Forschung ist, wo sehr viele Leute sehr viel Geld investieren, hat das natürlich noch keiner gemacht."
Das Hamburger Lied ist sozialkritischer
Die Wissenschaft kann also das Hamburger Musik-Gen - zumindest noch - nicht entschlüsseln. Für Stefan Gwildis geht es dabei ohnehin weniger um die formalen Bausteine eines Songs, als vielmehr um dessen Aussage: Das Hamburger Lied als sozialkritischer und durchaus persönlich gemeinter Beitrag zum Geschehen in der Stadt.
"Für den letzten Auftritt im Stadtpark haben wir einen Song gemacht, der an diese Tradition auch anknüpft. Und zwar haben wir ein Lied über diese Sorte Menschen gemacht, die sich Steuergelder schnappen und es verzocken, und sich daran auch noch ganz fett bereichern. Also, wir haben die alte Tradition der Schmähsongs wieder aufgenommen und haben ihm ein Lied gewidmet, das heißt: Hau ab, Du stinkst! Oder, sagen wir mal in dieser Art des kritischen Liedguts - wir haben einen Song über die Elbphilharmonie gemacht. In dem Song wird die Elbphilharmonie fertig gestellt in 80 Jahren, glaube ich, und zur Eröffnung der Elbphilharmonie wird die Queen Mary 5 in Hamburg einlaufen und die rammt das ganze Teil, und zur Eröffnung geht die Elbphilharmonie schon wieder unter."
Womit neben der alten Tradition des Schmähsongs eine weitere, nicht einmalige, aber doch markante Eigenschaft auch der aktuellen Hamburger Musik gefunden wäre: Der Humor. Die Suche nach dem besten Witz und die Fähigkeit, auch über sich selbst lachen zu können.
Seif: "Das ist natürlich auch extrem Hamburg-spezifisch - siehe Fettes Brot, siehe Fischmob. Das ist eine gewisse Art von Humor ..."
Rath: "Rocko Schamoni, die frühen Goldenen Zitronen"
Seif: "Ne Ironie, ne Selbstironie vor allem auch, das ist so die Stärke meiner Meinung nach. Es schwingt immer mit: Man kann über sich selber lachen, man nimmt sich nicht zu ernst und lässt alles stehen und liegen für den guten Witz und für ne gute Redewendung innerhalb des Textes, die abzielt auf ne gute Pointe. Das ist, würde ich sagen, auch sehr Hamburg-typisch, was ich an Hamburg auch immer wahnsinnig geschätzt habe."
Die Schauspieler und Musiker Jaques Palminger (l-r), Alicia Aumüller, Rocko Schamoni, Franziska Hartmann und Heinz Strunk spielen am 29.04.2014 in Hamburg auf der Fotoprobe von "Tonight:Fraktus".
Jaques Palminger (l-r), Alicia Aumüller, Rocko Schamoni, Franziska Hartmann und Heinz Strunk bei einer Fotoprobe zu "Tonight:Fraktus" im Thalia Theater Hamburg© dpa/ picture alliance / Markus Scholz
Eine Annäherung an das typisch Hamburgische also eher über den Text als über die Musik. Dafür spricht auch eine weitere Besonderheit, die Thorsten Seif - nicht nur bei Bands seines eigenen Labels - zu entdecken glaubt.
Seif: "Das starke Auseinandersetzen mit Lyrik, mit Texten. Zu versuchen, zwei bis drei Ebenen zu schaffen innerhalb eines Textes. Meiner Meinung nach führte das schon dazu, dass Hamburg auf der musikalischen Pop-Landkarte so einen Stellenwert bekommen hat, den andere Städte so in den 90ern nicht hatten. Das war schon ganz klar so ein Markenzeichen von Hamburg. Deshalb hat man, glaube ich, in Popmusik-Deutschland so sehr auf Hamburg geguckt."
Mit einem Augenzwinkern wird die Pfeffersack-Politik kritisiert
Fragt man nach dem, was die Hamburger Musik heute ausmacht, wirft man in der Stadt selbst gern den Blick zurück auf die große Musik-Vergangenheit: auf Hamburg als Hip-Hop-Hauptstadt, auf die Hamburger Schule, die stilprägend war für die Popmusik in ganz Deutschland. Oder noch weiter zurück auf die Zeit, als der Hafen und das Plattdeutsche prägend waren für die Musikszene der Hansestadt. Ob Musiker, Produzent, Wissenschaftler oder Kulturjournalist - es fällt Ihnen schwer, klare Merkmale eines typisch Hamburgischen Sounds zu benennen. Und so bleibt auf der Suche danach oft nur der Griff in die Archivkiste, wo das klassische Hamburger Lied noch zu finden ist.
Gwildis: "Die Gebrüder Wolf zum Beispiel, das sind die Jungs mit dem Tüddelband, oder Hein Köllisch zum Beispiel auch. Also wenn man mal ganz, ganz weit zurück geht, dann kommt man auf Typen, die sehr weltoffen sind, die auch sehr kritisch sind, was die Pfeffersack-Politik anbetrifft, aber die immer dafür einstanden, einen gesunden Menschenverstand zu haben und Dinge mit der Hand auf dem Herzen zu machen. Das macht so mal grob den Hamburger Sound aus."
Mit der Hand auf dem Herzen und dem Herz auf der Zunge. Sozialkritisch, gern mit einem Augenzwinkern - so textet man in der Hansestadt. Früher wie heute - echt Hamburgisch eben.
Rath: "Ja, das ist halt das, was wir anfangs gesagt haben, dass es natürlich einen ganz starken Bezug zur deutschen Sprache gibt und zu ner Inhaltlichkeit, zu ner politischen Aussage, zu ner ganz gewissen Art von Poesie."
Nur die Musik, die könnte halt auch aus dem Rest der Republik kommen...
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