Musik gebraucht – Text neu

Von Susanne Mack |
Bachs Weihnachtsoratorium besteht aus sechs Teilen, man könnte auch sagen: es handelt sich um eine Folge von sechs Kantaten. Bei Weitem nicht alle dieser Kantaten hatte Bach gänzlich neu komponiert. Und auch der Text stammt nicht immer von ihm ...
Jörg Hansen: „Das Weihnachtsoratorium ist von 1734. Und ein Jahr vorher, 1733, hat Bach zwei verschiedene weltliche Kantaten geschrieben. Das eine ist eine Glückwunschkantate zum Geburtstag der sächsischen Kurfürstin Maria Josepha ...

....Der Eingangschor lautet dort: Tönet ihr Pauken, erschallet, Trompeten, muntere Seiten: erfüllet die Luft ...“

Jörg Hansen, Direktor des Bachhauses in Eisenach. Und das ist der Eingangschor des Weihnachtsoratoriums:

„Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage,
rühmet, was heute der Höchste getan!“


Jörg Hansen: „Und dann gibt es eine weitere weltliche Kantate: ‚Herkules am Scheideweg‘, ebenfalls 1733 geschrieben. Dort entnahm Bach die weiteren Teile des Weihnachtoratoriums. Um dort nur ein Beispiel zu geben: Es gibt dieses wunderschöne Lied: ‚Schlafe, mein Liebster‘ über das Jesuskindlein in der Krippe: ‚Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh, Wache nach diesem vor aller Gedeihen! Labe die Brust, empfinde die Lust, wo wir unser Herz erfreuen!‘
Ein Jahr vorher klang das noch etwas stärker: Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh‘, folge der Lockung entbrannter Gedanken, schmecke die Lust der lüsternen Brust und erkenne keine Schranken!“

„Musik gebraucht – Text neu“. Nach diesem sogenannten Parodieverfahren (im Barock übrigens eine gängige Praxis) hat Bach mehr als 20 Stücke – Arien, Chöre, Rezitative – des Weihnachtsoratoriums kreiert.

„Wahrscheinlich stand dahinter der Gedanke: ‚Ich rette die Musik dadurch!‘ Denn wer führt schon eine Geburtstagskantate zweimal auf, und wen interessiert es, was für den früheren Herrscher und seine Gattin geschrieben worden ist? Und dadurch, dass man eine geistliche Musik daraus macht, kann man das verewigen.“

Aber vielleicht gab es ja auch ganz profane Gründe für die Bachsche Lust, die eigenen Stücke zu recyclen: schlichte Zeitnot nämlich. Als Musikdirektor der Stadt Leipzig und gleichzeitig Hofkompositeur des Sachsenkönigs in Dresden hatte Bach schon alle Komponistenhände voll zutun, aber da war auch noch die Kirchenmusik in Leipzig: Jeden Sonntag strömten rund 2000 Besucher in die Thomaskirche – in froher Erwartung einer neuen Bachkantate.

Dort erlebt auch das Weihnachtsoratorium Anno 1734 seine Premiere – mit dem Thomanerchor, der es bis heute alljährlich in der Weihnachtszeit zur Aufführung bringt.

Jörg Hansen: „Wenn man dass Weihnachtsoratorium gedanklich mitverfolgt, das ist ja gegliedert nach Feiertagen: erster Weihnachtstag, zweiter Weihnachtstag bis Dreikönig. Jeder Teil ist für einen Tag geschrieben. Den Teilen zugrunde liegt jeweils ein Evangeliumstext. Und wenn man das genau beobachtet, dann stellt man fest: Das ist ja gar nicht der Evangeliumstext, der in der evangelischen Kirche an diesem Feiertag gelesen wird, das ist ein anderer! Ja, und da hat man sich am Kopf gekratzt und gesagt: Na ja, vielleicht war Bach ein Freigeist? Der also nach Belieben die Evangeliumstexte selbst aussucht und sich nicht um die kirchliche Praxis kümmerte.“

Bach – ein Freigeist in Sachen Religion? Schwierige Frage, sagt Jörg Hansen. Um sich hier Klarheit zu verschaffen, müsste man zunächst die theologischen Bücher kennen, die Bach im Lauf seines Lebens gelesen hat.

Jörg Hansen: „Wir wissen, dass Bach eine ganz umfangreiche theologische Bibliothek hatte. Das wissen wir aus seinem Nachlassverzeichnis: 52 Werke in 81 Bänden. Das Problem ist, dass von den Originalbüchern nur noch eines erhalten ist: seine Bibel. Und die ist heute in Saint Louis, Missouri, die kam mit einem Auswanderer dorthin. Und die anderen Bücher sind verschollen. Wir wissen aber genau, welche Werke Bach hatte. Und anhand der Titel kann man in vielen Fällen sogar die genaue Ausgabe des Buches bestimmen.“

Die theologische Bibliothek des Johann Sebastian Bach – seit den fünfziger Jahren ist das Bachhaus in Eisenach damit beschäftigt, Parallelexemplare dieser Büchersammlung zusammenzutragen. Was man bisher erwerben konnte, kann der Besucher des Bachhauses jetzt in einer Ausstellung besichtigen.

Jörg Hansen: „Wir haben am 21. März mit 34 Büchern eröffnet. Und wir hoffen, dass bis 2017, bis zum Luther-Gedenkjahr, wir diesen Teil der Bibliothek dann komplett haben.“

Übrigens: Jedes dritte Buch in der Bachschen Sammlung theologischer Werke stammt aus der Feder von Martin Luther – darunter auch „Die Hauspostille“, eine Sammlung von Luthers Predigten. Anhand dieses Buches konnte die theologische Bachforschung inzwischen belegen: Zumindest das Weihnachtsoratorium ist eben kein Werk religiöser Freigeisterei.

Jörg Hansen: „In der ‚Hauspostille‘ sind die Weihnachtspredigten Luthers zu jeweils bestimmten Evangeliumstexten gehalten, und zwar in genau derselben Reihenfolge, in der wir sie dann im Weihnachtsoratorium wieder finden! Das heißt, Bach war kein Neudenker, sondern Lutheraner. Und hat sich an die Predigtreihenfolge bei Luther gehalten.“