Musik

Atonale Klänge und Massenkultur

Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). Bei der Schlacht um Verdun sind von Februar bis Dezember 1916 rund 700.000 Menschen umgekommen. Ausgelöst durch die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten am 28. Juni 1914 in Sarajevo brach im August 1914 der große Krieg (später als 1. Weltkrieg bezeichnet) aus. Es kämpften die Mittelmächte, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn sowie später auch das Osmanische Reich (Türkei) und Bulgarien gegen die Tripelentente, bestehend aus Großbritannien, Frankreich und Russland sowie zahlreichen Bündnispartnern. Die traurige Bilanz des mit der Niederlage der Mittelmächte 1918 beendeten Weltkriegs: rund 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete und fast 8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste.
Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). © picture alliance / AFP
Von Uwe Friedrich · 07.08.2014
Zwölftonmusik, Stahlsaiten, Kompositionen für verkrüppelte Pianisten: Der Erste Weltkrieg hinterließ auch in der Opern- und Konzertwelt deutliche Spuren.
Während des Krieges lief der Opern- und Konzertbetrieb scheinbar ungestört weiter. Der österreichische Musikkritiker Richard Specht schrieb 1914 in der Zeitschrift "Der Merker":
"Niemals ist das Befreiende, Beflügelnde, Entführende der Musik stärker empfunden worden als in diesen Tagen; niemals die Sehnsucht nach ihrer Botschaft intensiver gewesen."
Ganz im Gegensatz zu diesen eskapistischen Wünschen führte der Erste Weltkrieg jedoch nicht nur zum Zusammenbruch des alten Gesellschaftssystems in Zentraleuropa, sondern auch zum Ende der tonalen Komponierweise, jedenfalls in der sogenannten E-Musik. Wer jetzt noch unverdrossen am alten Dur/Moll-Schema festhielt, wie die konservativen deutschen Tonsetzer um Hans Pfitzner, kämpfte auf verlorenem Posten.
Atonale Musik und Kriegsbegeisterung
Während die Orchesterapparate im 19. Jahrhundert stetig aufgebläht wurden und in den Monumentalsymphonien Gustav Mahlers und den Opern von Richard Strauss mit bis zu 120 Mann gipfelten, konzentrieren die jüngeren Komponisten sich wieder auf kleinere Besetzungen. Vor allem die Wiener Komponisten waren unzufrieden mit der allgegenwärtigen Walzerseligkeit und entwickelten neue Techniken, die zwölf Einzeltöne der chromatischen Tonleiter erklingen zu lassen.
Alban Berg komponierte seine atonale Oper "Wozzeck" während des Kriegs und überforderte den Opernbetrieb damit so sehr, dass er auf die Uraufführung bis 1925 warten musste. Währenddessen wollte der Komponist Max Reger unbedingt in den Krieg ziehen, war aber untauglich und litt sehr darunter. Zum Ausgleich schrieb er eine "Väterländische Ouvertüre". Damit stand er auch international gesehen nicht allein. Edward Elgar wollte die britischen Truppen unterstützen und Claude Debussy ließ sich, obwohl eigentlich Kriegsgegner, zu irritierenden Äußerungen hinreißen.
"Seit man Paris von diesen lästigen Ausländern gesäubert hat, sei es durch Erschießen, sei es durch Ausweisung, ist es augenblicklich ein reizvoller Ort geworden."
Eigene Stücke für verstümmelte Pianisten
Eine ganze Generation großartiger Musiker blieb auf dem Schlachtfeld oder kehrte verstümmelt zurück. Auffällig vielen Pianisten wurde im Krieg der rechte Arm weggeschossen, sodass nach dem Krieg ein völlig neues Subgenre entstand, das Klavierkonzert für die linke Hand. Der berühmteste einarmige Pianist war der Wiener Philosophenbruder Paul Wittgenstein. Für ihn komponierten Erich Wolfgang Korngold und Maurice Ravel. Leoš Janáček widmete sein Klavierkonzert für die linke Hand dem Kriegsinvaliden Otakar Hollmann.
Ob die Einführung der lauter klingenden Stahlsaiten für Streichinstrumente tatsächlich damit zusammenhängt, dass Italien kriegsbedingt keine Darmsaiten mehr liefern konnte und verzweifelt ein Ersatz gesucht wurde, oder ob es sich um einen allgemeinen Trend der Zeit zu größerer Lautstärke handelte, der unabhängig vom Krieg zur Suche nach leistungsfähigeren Materialien führte, das ist unter Musikwissenschaftlern höchst umstritten. Die ungefähr gleichzeitig einsetzende technische Reproduzierbarkeit des musikalischen Kunstwerks mittels Grammophon beförderte hingegen ganz sicher zur Verbreitung von optimistischen Operetten- und Revueliedern, die ursprünglich gar nichts mit dem Krieg zu tun hatten.
Kommerzielle Massenkultur entsteht
Mit Revuen wie "Immer feste druff" oder "Blitzblaues Blut" entwickelte Walter Kollo während des Kriegs die Berliner Unterhaltungsoperette. Auch in der Weimarer Republik und später unter den Nationalsozialisten entsprach dieser Humor genau dem Unterhaltungsbedürfnis der neuen Angestelltenschicht. Es entstand eine kommerzielle Massenkultur mit professionellen Vermarktungsstrategien. Nicht nur die Monarchie und das stolze Bildungsbürgertum gingen im Ersten Weltkrieg unter, auch die geschmacksbildende Vormachtstellung der bürgerlichen Musikkultur wurde unwiederbringlich zerstört.
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