Museum der Woche

Von Georg Gruber |
In Kreuzberg zeigt ein Museum, wie dieser Berliner Stadtteil zum Mythos wurde. Vermittelt wird die Geschichte der Migration, der Stadterneuerung und des Protestes dagegen. Kreuzberg war Hochburg der alternativen Hausbesetzerszene. Daneben Symbol für multikulturelles Zusammenleben, mit all seinen Chancen und Problemen.
Ton Steine Scherben – sie gehören zu denjenigen, die den Mythos Kreuzberg mit prägten. Anfang der 70er Jahre lieferten sie den Sound für die ersten Hausbesetzungen in Westberlin. Der klassische Arbeiterbezirk war zu diesem Zeitpunkt bereits im Umbruch, wie Martin Düsphol, der Leiter des Kreuzberg-Museums erklärt:

"In den 60er Jahren gab es erste Bewegung von Künstlern in diesen Stadtteil, und diese Künstlergruppe, man bezeichnete sich auch als Berliner Montmartre, haben am Kreuzberg Bilder gezeigt, ausgestellt, das betrifft die Endfünfziger, 60er Jahre und in dieser Zeit beginnt der Mythos Kreuzberg als Bezirk, der Kunst, der Kneipen , der langen Nächte."

"Daher stammt das und ist dann 1968/69 abgelöst worden als Treffpunkt der radikalen Teile der Studentenbewegung, der K-Gruppen später und seit dieser Zeit auch Einwandererbezirk für sogenannte Gastarbeiter aus Süd- und Südosteuropa."

"Diese verschiedenen Phasen, wie der Mythos sich verändert und auch wieder neu sich konstituiert, ist spannend zu beobachten."

Und das Museum im Zentrum des berühmten Bezirkes SO 36 ist ein idealer Ausgangspunkt, um sich dem Mythos Kreuzberg in seiner Vielschichtigkeit zu nähern. Migration und die Geschichte von Stadtsanierung und Protestbewegung sind zwei Schwerpunkte des Museums, das sich in einem alten Fabrikgebäude befindet

Bei der Eröffnung 1991 stieß das Museum im alternativ-revolutionären Multikulti-Szenebezirk allerdings erstmal auf Skepsis: Eine "Staatseinrichtung" in unserem Kiez, was soll das?

"Es hat uns in der Anfangszeit sehr viel Mühe gekostet, das war auch das Konzept, dieses zu einem Museum auszubauen, wo Bewohner auch in der unmittelbaren Umgebung sich beteiligen können, partizipieren können, bis sie dieses Museum als ihr Museum akzeptiert haben."

Das Ausstellungsprojekt zur Stadtentwicklung etwa wurde ein Jahr lang von mehreren Arbeitsgruppen vorbereitet. Es gab …

" … eine Schreibwerkstatt, eine Fotogruppe, eine Multimediagruppe, eine Sammlergruppe, eine Ausstellungsbauergruppe."

Das Ergebnis der Gemeinschaftsarbeit ist in der ersten Etage ausgestellt, ein großes Modell, ganze Straßenzüge sind dort nachgebaut.

"Unterhalb des Modells findet man Schublanden mit Informationen über die einzelnen Grundstücke und ihre Geschichte und den Menschen. Und drum herum sehen sie ein Band, wir nennen das den roten Faden, wo die Geschichte der Stadtsanierung und Stadtentwicklung chronologisch dargestellt wird."

"Die Ausstellung hat mehrere Ebenen, auf der einen geht es von der Topografie in die Tiefe der Geschichte, andererseits gibt es eine Darstellung der Gegenwart dieses Bezirks mit Fotos von Wohnzimmern, damit man auch sieht, was hinter der Fassade stattfindet, Wohnzimmer mit den Menschen, die diese Wohnzimmer bewohnen."

Und, der Besucher kann, per Kopfhörer, die Bewohner auch hören, "oral history", zum Beispiel Charlotte Mathesie, die über 50 Jahre ein Fotostudio betrieb:

"Die Türken wollen nie ein Brustbild haben, sonst würden die zuhause ja denken, dass sie keine Beine mehr haben, also stellen wir sie hin, wie sie es haben wollen, mit dem Transistorradio, mit der Uhr, Armbanduhr extra hochgezogen, damit man es sehen kann. Und die Mutter freut sich, dass es ihr Sohn so gut hat hier."

Im zweiten Stock des Museums wird die die Migrationsgeschichte Kreuzbergs erzählt. Und die beginnt bereits um 1700, mit dem Zuzug der Hugenotten aus Frankreich, dazu kommen Böhmen und Schlesier, dann nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge aus dem Osten, in den 60er Jahren schließlich die sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei. Die damals, wie Martin Düsphol erklärt, einen "zivilisatorischen Rückschritt" erlebten:
"Was man auch sieht, ist ein Gegensatz: die Herkunft, Istanbul, damals eine moderne Großstadt, durch ein Farbfoto inszeniert und demgegenüber ein großes Schwarzweißfoto von Kreuzberg. Und da hat man den Eindruck, der Krieg ist eben erst zu Ende gegangen."

"Und an diesem Beispiel möchte ich nur darstellen, dass diese Klischees gezeigt werden, Kreuzberg als multikultureller Stadtteil und hinterfragt werden, wie ist es dazu gekommen, und welche Dinge muss man in seiner eigenen Betrachtungsweise der Geschichte möglicherweise korrigieren."

Das Lieblingsstück des Leiters des Kreuzberg-Museums liegt einen Stock tiefer: eine Abrissbirne, die von Hausbesetzern einer Baufirma entwendet und vor die Tür der Investitionsbank Berlin gelegt worden war. Symbol für die Kahlschlagsanierung der 60er und 70er Jahre und den Protest dagegen. Die Hausbesetzerszene ist inzwischen befriedet. Der Mythos Kreuzberg lebt weiter.