Muse mit scharfer Beobachtungsgabe

Von Tobias Wenzel · 17.01.2013
Mit ihren 32 Jahren war die Camille de Peretti schon mehrmals verheiratet, hat in Japan französische Kultur unterrichtet und eine eigene Kochsendung moderiert. Jetzt erscheint ihr viertes Buch "Der Zauber der Casati" auf Deutsch. Darin beschreibt sie das Leben der 1957 verarmt in London gestorbenen Muse Luisa Casati. Es ist auch ein bisschen ein Selbstporträt.
Camille de Peretti: "Einige Menschen haben ein so verrücktes Leben, dass man sie einfach nur beobachten muss. Die Wirklichkeit übersteigt immer unsere schlichte Vorstellungskraft."

Das weiß die französische Schriftstellerin Camille de Peretti spätestens, seit sie mit zehn Jahren viele Tage im Altenheim verbrachte. Denn dort arbeitete ihre Mutter als Krankenschwester. Und wenn kein Babysitter aufzutreiben war, nahm die Mutter ihre Tochter einfach mit zur Arbeit.

Im Altenheim beobachtete das Mädchen fasziniert die Bewohner, ihre unterschiedlichen Charaktere, wie die einen sich zum Sterben zurückzogen und die anderen sich im hohen Alter verliebten. Diese Erfahrungen standen am Anfang von "Wir werden zusammen alt", Camille de Perettis Roman über ein Altenheim, der mal böse ist, mal sanft, oft tragikomisch, immer scharf beobachtend. Eine der Hauptfiguren leidet unter Demenz und hält sich für einen Kapitän und das Altenheim für ein Schiff. Den Mann hat es wirklich gegeben. Allerdings war ihm Camille de Peretti bei Besuchen in einer psychiatrischen Klinik begegnet:

"Er war ein glücklicher Verrückter. Er glaubte wirklich, auf einem Schiff zu sein. Er rief: 'Alle Mann an Backbord! An Steuerbord!' Er gab die Befehle, er war ja der Kapitän. Und alle anderen Verrückten machten, was er sagte. Wenn die Krankenschwestern zu irgendeiner Patientin sagten: 'Kommen Sie, wir bringen Sie auf Ihr Zimmer!', rührte sich die Patientin nicht. Wenn der Kapitän ihr aber sagte: 'Aufs Zimmer, Schiffsjunge!', dann tat das die Frau. Niemand wusste, ob es normal ist, dass sich Verrückte untereinander verstehen, oder nicht. Das war großartig!"

Camille de Peretti schwelgt in der Erinnerung. Wenn die Pariser Autorin erzählt, erliegt man ihr sofort. Weniger, weil sie eine bildhübsche Frau ist, mit ihren langen schwarzen Haaren, den elegant geschwungenen Augenbrauen, dem sinnlichen, fast unaufhörlich lächelnden Mund. Vielmehr weil man Zeuge wird, wie sie das Leben staunend betrachtet, und zwar auf erfrischend naive Weise. Wobei ihre Naivität mit einem verspielten, aber scharfen Verstand einhergeht, mit Witz und mit einer schier unglaublichen Lebenserfahrung:

"Ich habe geliebt, ich hatte Ehemänner, Ehemänner im Plural! Ich bin gereist, bin den Männern, die ich geliebt habe, gefolgt, nach England, in die Schweiz. Ich gebe vielleicht schon mehr Gas als andere. Ich sage mir immer: Schnell, schnell, ich muss noch einiges machen, bevor ich sterbe. Schnell, schnell! Man weiß ja nie, was passieren kann."

1980 wurde Camille de Peretti in Paris geboren, wurde bald allein von der Mutter aufgezogen:

"Ich habe meinen Vater kaum gekannt. Er war ein Abenteurer, um es kurz zu machen."

Sie geht auf eine zweisprachige Schule in Paris, jobbt in einer Handelsbank, ohne Ahnung vom Finanzwesen zu haben, macht sich selbstständig als Organisatorin von Partys, unterrichtet in Japan französische Kultur, wird zufällig vom japanischen Fernsehen entdeckt und bekommt eine eigene Kochsendung, schreibt ein autobiografisches Buch über ihre Magersucht, gründet eine Theatergruppe in Paris. Lebt und liebt im Eiltempo. Und ist mittlerweile etwas ruhiger geworden:

"Je älter ich werde, desto weniger habe ich Angst vorm Altern. Mit 18 dachte ich, das Alter sei eine Katastrophe, Falten zu haben, graue Haare. Nicht mehr alles machen zu können, was man will, nicht mehr in einen Nachtclub gehen können. Aber schon jetzt habe ich immer weniger Lust darauf, in einen Nachtclub zu gehen. Und im Alter dann vielleicht gar nicht mehr. Da möchte ich sicher nur ein ruhiges Leben haben. Ich hoffe jedenfalls, dass es so kommt."

Sie hat eine kleine Tochter. Auch deshalb ist Camille de Peretti häuslicher geworden. Und sie hat aus Fehlern gelernt, erzählt sie. Heute ist sie mit einem Banker verheiratet, der ein gutes Gegengewicht zu ihrem künstlerischen Gemüt bilde. Die Ehe davor, mit einem Maler - zwei Künstler unter einem Dach -, das habe nicht gut gehen können.

Maler und andere Männer haben in Camille de Peretti eine Muse gesehen. Und sie hat die Rolle auch bedient. Umso hellhöriger wurde sie, als sie von der italienischen Muse Luisa Casati hörte:

"Ein Freund hat mir von ihr erzählt und gesagt, dass sie nach der Jungfrau Maria und Kleopatra die am häufigsten porträtierte Frau der Kunstgeschichte ist. Ich dachte: Unmöglich! Niemand kennt sie! 123 Künstler, darunter sehr berühmte, haben sie porträtiert. Sie hat der Zeit ihren Stempel aufdrücken wollen. Aber es hat nicht funktioniert. Diese Ungerechtigkeit wollte ich etwas wettmachen und versuchen, dieser Frau wieder ihre Bedeutung zurückzugeben."

Das hat sie in ihrem neuen Roman getan, einem Buch, das vor allem das Porträt der 1957 in London verarmt gestorbenen italienischen Muse ist, aber ein bisschen auch ein Selbstporträt. Bleibt die Frage, welche Musen die Muse Camille de Peretti hat:

"Meine Musen sind die kleinen Dinge des Alltags."