Munition in der Nordsee

"Sie müssen davon ausgehen, dass man keine Forschung wollte"

06:47 Minuten
Philipp Grassel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Maritime Archäologie im Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, hält eine Geschosshülse in seinen Händen. Er arbeitet in einem Forschungsprojekt, das sich der Problematik von verklappter Munition, Kriegswracks und der daraus resultierenden Umweltverschmutzung in der Nordsee widmet.
Philipp Grassel hält eine Geschosshülse in seinen Händen: "Größere Dynamik des Meeresbodens in der Nordsee." © Carmen Jaspersen/dpa
Von Felicitas Boeselager · 08.04.2019
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Mehr als eine Million Tonnen Munition aus zwei Weltkriegen - gigantische Berge von Giftmüll liegen noch in der Nordsee. Allerdings ist nicht geklärt, wo genau. Aufklärung verspricht das Projekt "North Sea Wreck" - endlich, denn die Uhr tickt.
Frederic Theis und Philipp Grassel hieven einen Stapel alter Seekarten auf ein Pult im Archiv des Schifffahrtsmuseums Bremerhaven.
"Wir haben hier unten eine Datumsanzeige und einen Hinweis auf den Urheber, das ist eine hydrographische Behörde der britischen Admiralität, und das Datum, das hier genannt wird, ist September 1945."
Auf der Karte ist die südliche Nordsee abgebildet, das heißt die Küsten des europäischen Festlands, außerdem England und Irland.
"Wir haben also rote Bereiche vor den Küsten, sehr großflächige, einmal komplett rote und einmal gestrichelte rote. Die komplett roten werden als gefährlich eingestuft, allerdings kann man immer noch durchfahren. Und die gestrichelt-roten werden eingestuft als sehr tiefliegende Minenfelder, – die dort vorhanden sind, aber offen für die Oberflächen-Navigation. Also wir haben hier schon mal einen Hinweis, wo sich laut Informationen von damals Minenfelder befunden haben."

Flugzeug- und Schiffwracks, über Bord Gegangenes

Rot ist fast das ganze Gebiet vor der Küste des europäischen Festlands. Philipp Grassel gehört zum Team von "North Sea Wrecks", einem Forschungsprogramm, das die Munition und Wracks am Grund der Nordsee katalogisieren will.
Sunhild Kleingärtner, Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven, sagt:
"Auf dem Grund der Nordsee liegt alles das was versehentlich über Bord gegangen ist, was gezielt dorthin gebracht wurde, was vielleicht versenkt oder auch vom Himmel geschossen wurde. Also sprich, wir müssen mit Flugzeugwracks rechnen, mit Schiffswracks, mit über Bord gegangenen Containern. Und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg hat man auch geglaubt, an bestimmten Stellen in der Nordsee Munition beispielsweise verklappen zu können, um eine Lösung zu finden, wohin man mit Munitionsresten gehen kann."
Kleingärtner leitet das Projekt "North Sea Wrecks". Es wird mit EU-Geldern gefördert, insgesamt sind 30 verschiedene Projektpartner aus Europa beteiligt.
Jens Ruppenthal, ebenfalls vom Deutschen Schifffahrtsmuseum, erläutert die Ziele: "Langfristig kann daraus mal eine große Datenbank werden, die dann wirklich auch für die Politik, für die Wirtschaft, für sämtliche Stakeholder nutzbar sein soll. Das ist aber im Grunde schon ein Fortsetzungsschritt. Dies Projekt setzt tatsächlich ganz früh an und versucht tatsächlich zunächst mal eine Informationssammlung zu leisten."

1,3 Millionen Tonnen Munition

Schätzungen zufolge liegen auf dem Grund der Nordsee 1,3 Millionen Tonnen Munition. Und das zum Teil seit über 100 Jahren. Relikte aus zwei Weltkriegen. Die Strömung, das Salzwasser und das Meer wirkten dabei wie Schmirgelpapier auf die Gehäuse der Munition, erklärt Kleingärtner.
"Zunehmend diffundiert TNT und andere explosive Stoffe ins Meer, in Flora und Fauna, so dass das jetzt eigentlich eine tickende Zeitbombe auf dem Meeresgrund ist."
Die genaue Dokumentation der verklappten Munition auf den Seekarten verdeutlicht, wie wenig Bewusstsein man nach den Kriegen für das Ökosystem Meer hatte. Man dachte: Aus den Augen, aus dem Sinn – Problem erledigt.
Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Philipp Grassel und Frederic Theis, die sich über die Karte beugen.
Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Philipp Grassel und Frederic Theis, die sich über die Karte beugen.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Außer den Seekarten nutzen die Forscher Schriftstücke oder Berichte alter Fischer, die erzählen, wo sie im Auftrag der Alliierten die Munition ins Meer gekippt haben.
"Das ist auch der Grund, warum dieses Projekt am Deutschen Schifffahrtsmuseum angesiedelt ist: weil wir im Grunde die historischen Informationen aus unserem Archiv nutzen wollen, um daraus dann auch Schlüsse zu ziehen: Wo müssen wir ansetzen, um uns überhaupt einen Überblick über den Zustand unter Wasser zu verschaffen."
Nach der Arbeit der Historiker und Archäologen kommen dann in einem nächsten Schritt die Naturwissenschaftler an die Reihe. Zum Beispiel Matthias Brenner vom Alfred Wegener Institut in Bremerhaven. Er war schon an großen Forschungsprojekten in der Ostsee beteiligt und hofft von diesen Erfahrungen profitieren zu können. Allerdings sei nicht alles eins zu eins übertragbar. Denn die Ostsee sei im Vergleich zur Nordsee eher ein See, mit geringem Wasseraustausch, was in sie hineinkäme, das verweile dort auch für eine lange Zeit.
"Während zum Beispiel in der Nordsee die Wasseraustauschraten wesentlich größer sind, zwei Mal am Tag kommen die Gezeiten rein, ein Wasserkörper X ist komplett ausgetauscht gegen einen anderen –das heißt Substanzen, die aus einem Munitionskörper rauskommen sind natürlich dann schnell großflächig verteilt, das kann dann ganz andere Auswirkungen auf die Organismen haben."

70 Jahre lang kein Geld für Forschung

Außerdem stehen die Forscher bei der Nordsee noch ganz am Anfang.
"In der Nordsee wurde noch nichts dergleichen untersucht. Sie müssen davon ausgehen, dass man es nicht wollte. Fakt ist, es wurde 70 Jahre lang keine Forschung finanziert, die sich im Detail damit beschäftigt, vor allem keine unabhängige Forschung."
Während die Munition in der Ostsee schon seit 2006 untersucht wird:
"In der Ostsee sind die Anrainer vielfältig. Die Polen und beispielsweise die Litauer haben auch ein sehr starkes Interesse daran gehabt, herauszufinden, was eigentlich dort ist. Sie waren an dem Krieg unschuldig, die Verklappungsoperationen wurden von den Russen organisiert, die Waffen stammen nicht von ihnen. Sie haben einfach drängende Fragen gehabt."
Eine weitere Herausforderung sind die schlechten Sichtverhältnisse in der Nordsee, wegen des Algenbewuchses können Taucher hier zum Teil nur 20 Zentimeter weit sehen – und manche Wracks sind ganz versteckt, erläutert Philipp Grassel:
"Die Sedimentbewegung in der Nordsee ist halt größer, einfach weil man wesentlich mehr Strömung hat, allein schon durch den Tidenhub. Deswegen haben wir zum Beispiel ein Wrack, und dann drei Jahre später ist es weg, aber es ist nicht weg, sondern es ist einfach nur zusedimentiert. Und dann zwei Jahre später ist es wieder zu sehen. Also, man hat eine wesentlich größere Dynamik des Meeresbodens."
Das Projekt North Sea Wrecks soll 2022 abgeschlossen sein. Die Uhr tickt: Abgesehen davon, dass manche Geschosse heute schon offen liegen, zeigen jüngste Minenfunde in Niedersachsen, dass die Metallhülle in 15 Jahren schon ganz durchgerostet wäre.
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