Multitasking und Mental Load

Warum das Gehirn an seine Grenzen stößt

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Illustration eines Gehirns auf gelbem Grund, dessen rechte Hälfte sich in weißen Pixeln auflöst.
In extremen Stresssituationen kann es sein, dass Informationen gar nicht mehr abgerufen werden können, haben Hirnforscher und Hirnforscherinnen herausgefunden. © Getty Images / Vertigo3d
Von Carina Schroeder · 05.05.2022
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Immer mehr äußere Reize und immer mehr Arbeit. Multitasking wäre eine Lösung, doch es zeigt sich immer deutlicher, dass das Gehirn das nicht leisten kann. Neue Untersuchungen bestätigen: Statt effizienter zu werden, sinkt unsere Aufmerksamkeit.
“Da hat man in Texas die Studierenden in drei Gruppen unterteilt in einer tatsächlich realen Prüfung. Die haben der einen Gruppe gesagt: Sie müssen alles vor dem Test abgeben. Die durften nur einen Stift mit reinnehmen und mehr nicht. Die zweite Gruppe durfte ihr Smartphone mit in die Prüfung nehmen, musste es aber ausgeschaltet, mit dem Display nach unten auf den Tisch legen. Die dritte Gruppe durfte ihr Smartphone mit reinnehmen und tatsächlich auch während der Prüfung mit dem Smartphone interagieren. Natürlich nicht Wissen abrufen, aber durften mit den sozialen Medien interagieren, Nachrichten beantworten oder eingehenden Nachrichten lesen.”
Was der Hirnforscher Martin Korte hier beschreibt, ist ein Experiment von Psycholog*innen der Universität Austin in Texas. Tatsächlich handelte es sich aber nicht um eine echte Prüfung, obwohl die Studierenden dachten, es gehe wirklich um Noten. Trotzdem benutzten ein Drittel ihr Handy und schnitten am schlechtesten ab.
Studierende in einem Vorlesungssaale mit Notizblöcken und Smartphone
Studierende, die während einer Prüfung ihr Handy benutzen, schneiden schlechter ab als die ohne, zeigte ein Experiment in den USA.© picture alliance / Zoonar / lev dolgachov
“Aber das andere, was erstaunlich war, ist, dass selbst die Gruppe, die das Smartphone ausgeschaltet mit dem Display nach unten auf den Tisch gelegt hatte, war signifikant schlechter wie die Gruppe, die nicht mal ihr Smartphone mit dem Raum hat.”

Auch ausgeschaltete Handys lenken ab

Eine Erklärung der Wissenschaftler: Wenn das Smartphone im Sichtfeld ist, besteht ein Ablenkungspotenzial, da sich die Aufmerksamkeit bei den meisten Menschen dennoch darauf fokussiert. Rund 98 Prozent aller Menschen seien zu dieser Art des Multitaskings nicht in der Lage, so Korte.
“Wenn man auf einer Party ist, kann man sich auf das Gespräch konzentrieren, was man gerade führt. Wenn man versucht, das Nachbargespräch mitzuhören, verpasst man die Hälfte des eigenen Gesprächs. Das heißt, auf einer Party sind wir lediglich in der Lage, noch zu erkennen: Reden Männer oder Frauen und wird unser Name genannt? Denn dann wechseln wir die Aufmerksamkeit, wenn wir unseren Namen hören.”
Je ähnlicher die Aufgaben, zum Beispiel zwei Gespräche gleichzeitig zu verfolgen, desto schwerer wird es für das Gehirn, dies zu verarbeiten. 

Kurze Aussetzer beim Multitasking

“Den Preis, den wir dann bezahlen, ist, dass es immer so Unaufmerksamkeiten gibt, während wir zwischen den Tätigkeiten wechseln. Im Englischen sagt man ‚attentional blinks‘. Das heißt, wir haben so kurze Aussetzer, so wie wenn man kurz die Augen schließt, ohne dass wir das merken. Das Gehirn füllt diese Leerplätze auf. Aber wir haben dann Momente der Unaufmerksamkeit, ist beim Autofahren extrem gefährlich, aber eben auch beim Lernen.”
Zuständig für das Erledigen der Aufgaben, die mehr oder weniger gleichzeitig passieren, ist das Arbeitsgedächtnis. Hier werden Informationen für kurze Zeit gespeichert.
“Und das stellt sich dann so dar, dass einzelnen Neuronen ihre Aktivitäten erhöhen und bestimmte Informationen repräsentieren. Zum Beispiel ein Neuron wird sehr stark aktiv, wenn eine bestimmte Farbe sich gemerkt wird, in einem einfachen Experiment, aber gar nicht aktiv, wenn eine andere Farbe sich gemerkt werden soll. Sodass wir auf die Art rekonstruieren können, dass ein Netzwerk von Zellen Informationen für eine Farbe für eine Weile aufrechterhält, obwohl das Tier oder die Versuchsperson die Farbe in dem Moment nicht sieht”, sagt Jonas Rose.

Ähnliches Arbeitsgedächtnis bei Mensch und Vogel

Rose leitet den Lehrstuhl “Neuronale Grundlagen des Lernens” der Ruhr-Universität Bochum. Seine Testpersonen sind keine Menschen, sondern Vögel, wie beispielsweise Raben. Das Arbeitsgedächtnis hat sich bei Vögeln und Menschen evolutionär ähnlich entwickelt, weil das Konzept an sich gut funktioniert, so Jonas Rose.
“Eine große Klasse von Modellen sagt, es gibt quasi eine begrenzte Anzahl Informationsschubladen. Ich habe maximal vier Schubladen, ich kann mir maximal vier Dinge merken. Wenn meine Schubladen voll sind, dann kann nichts mehr ins Gehirn oder ins Arbeitsgedächtnis”, so Rose weiter.
Aber können sich diese “Informationsschubladen” des Arbeitsgedächtnisses auch mit der Zeit erweitern oder anpassen?
“Aus evolutiver Sicht kann man sagen, dass die Mechanismen von Mutation und Selektion viel zu langsam ablaufen, um auf kulturelle Phänomene einzugehen. Das heißt, unsere Gehirne haben noch die genetische Komposition der Gehirne von vor 10.000, wahrscheinlich sogar von vor 30 oder 40.000 Jahren und haben sich seitdem auch nicht geändert”, sagt Martin Korte.

Multitasking klappt heute schlechter als früher

Deshalb klappt das Multitasking heute auch nicht besser als früher - im Gegenteil, die Anzahl unterschiedlicher Reize in unserem Alltag und auch die Arbeitsbelastung steigt immer mehr. Alles muss immer schneller und effizienter erledigt werden.
“Wenn der zweite Stimulus sehr nah an den ersten kommt, dann werden Sie, also zeitlich, eine deutliche Reaktionsverzögerung haben, weil Sie noch damit beschäftigt sind, die erste Aufgabe zu beantworten. Und hier spricht man tatsächlich von einer Art kognitiven Flaschenhals, sozusagen ein Engpass in der Verarbeitung”, erklärt der Psychologe Iring Koch von der RWTH Aachen.
Am Computer erstellte Anatomie des Gehirns einer Frau inklusive Hippocampus
Anatomie des Gehirns: Wenn der Stress extrem hoch ist, kann es im Hippocampus - hier grün eingefärbt - zu ganzen Ausfällen kommen.© imago/Science Photo Library
Doch es kann nicht nur zu starken Verzögerungen kommen, sondern auch zu ganzen Ausfällen im Hippocampus - wenn der Stress extrem hoch ist. Dann werden so viele Stresshormone gebildet, um die Energiezufuhr zum Gehirn zu verbessern, und das kann zu einer Stoffwechsel-Überreaktion führen.

Kein Informationsabruf mehr in Stresssituationen

“Das führt aber auch dazu, dass riesige Mengen Sauerstoff und Sauerstoffradikale produziert beziehungsweise verbraucht werden. Und die Nervenzellen, die darauf besonders sensibel reagieren, die sitzen im Hippocampus, und die stellen ihre Tätigkeit ein”, erklärt Martin Korte.
Damit kann das Überschreiben der Informationen vom Hippocampus in der Großhirnrinde komplett unterbrochen werden. Das könnte auch dazu führen, dass in extrem stressigen Situationen Informationen nicht mehr abgerufen werden können.
Deshalb rät der Gedächtnis-Experte Martin Korte: “Wenn man versucht, Dinge parallel zu erledigen und nicht der Reihe nach, macht man 40 Prozent mehr Fehler. Und man braucht am Ende des Tages doppelt so lange für die Aufgaben. Also hier verwechselt man immer Produktivität mit Stressbelastung. Produktiv sind wir dann, wenn wir die Aufgaben der Reihe nach erledigen.”
Auch wenn die genetischen Voraussetzungen unserer Gehirne sich nicht so schnell verändern können, bleibt die Frage, ob aus dem digitalen Alltag und seinen verschiedenen Reizen und Anforderungen, dennoch neue soziale Praktiken entstehen, die der allgemeinen Überforderung etwas entgegensetzen können. Zum Beispiel durch Auslagerung an kuratierende Gadgets oder künstliche Intelligenz. Diese zu überwachen, wäre aber wieder eine gleichzeitige Aufgabe, die es zu meistern gilt.

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