"Muffi" und "Niks"

29.06.2011
Charlotte von Preußen, älteste Tochter des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III., war mehr als 30 Jahre lang Zarin von Russland und ihrem Mann, Zar Nikolaus I., in Liebe verbunden. Ohne ins Anekdotenhafte zu verfallen, schildert Marianna Butenschön anschaulich, wie eng damals die Geschicke Preußens mit Russland verbunden waren.
30 Jahre lang war sie Kaiserin von Russland – und doch kennt sie kaum jemand: Charlotte – eigentlich Friederike Luise Charlotte Wilhelmine von Preußen, die von 1798 bis 1860 lebte – stand völlig im Schatten ihrer Mutter, der berühmten Luise von Preußen. Auch Charlottes Ehemann, Zar Nikolaus I., gilt innerhalb der spannungsreichen russischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht eben als der interessanteste Regent. Warum also eine Biografie der "Preußin auf dem Zarenthron"?

Marianna Butenschön, Osteuropa-Historikerin und Journalistin, macht in ihrer knapp 400 Seiten starken Biografie aus der Not eine Tugend: Weil sich außer dem russischen Autor Nikolas Risanowski und dem amerikanischen Historiker Bruce W. Lincoln niemand mehr mit Charlotte und Nikolaus I. beschäftigt hat, kann sie in ihrem Buch zahlreiche Entdeckungen machen. Und: Sie schildert die Geschichte Russlands zwischen 1813 und 1860 aus deutscher Sicht. Beides bringt Gewinn.

Denn: Es ist verblüffend zu erfahren, wie eng während dieser Dekaden die preußisch-deutschen Beziehungen zu Russland waren. Immer wieder haben die Hohenzollern den russischen Regenten Alexander I. in Sankt Petersburg und in Moskau besucht. Wochenlang dauerten damals solche Staatsbesuche – und die russischen Gastgeber revanchierten sich mit monatelangen Aufenthalten in Potsdam.

Dementsprechend war die Verbindung von Nikolaus I. und Charlotte von Preußen zunächst vor allem politisch gewollt – aber ein glücklicher Zufall wollte, dass die 16-jährige Preußenprinzessin, die sich in Russland "Alexandra" nannte und zum orthodoxen Glauben übertrat - und der 19-jährige Zarensohn sich tatsächlich ineinander verliebten. Die Folge: Nicht nur eine lebenslang währende Beziehung, aus der sieben Kinder hervorgingen, sondern auch Tausende von Briefen, die die romantische Charlotte an ihren Gatten richtete – und umgekehrt.

Dass er sie dabei "Muffi" nannte und sie ihn "Niks", wäre allenfalls für die Klatschspalten interessant – dass sich aber ein russisches Herrscherpaar malen lässt, während sie hausfraulich strickt und er, Pfeife rauchend, ein Journal liest, das zeigt viel über den neuen Stil im Hause Romanow. Freilich blieb Nikolaus I. immer derselbe unbeholfene und auch unbelehrbare "Gendarm Europas", als der er sich eingeführt hatte.

Die Autorin versteht es, die russische und die preußische Geschichte so mit der persönlichen Biografie Charlottes zu verweben, dass ein ausgewogenes und spannendes Buch entstanden ist. Keine Selbstverständlichkeit. Dabei hilft Butenschön, dass sie das umfangreiche Material – Briefe von Charlotte und Nikolaus, Tagebücher Charlottes und Chroniken zahlreicher Zeitgenossen, von Alexander von Humboldt bis zur Gräfin Bernstorff – geschickt ordnet und aus den Dokumenten konsequent jene auswählt, die unmittelbar mit Charlotte zu tun haben. Wo sie sich entscheiden muss, ob sie dem privaten Klatsch oder der politischen Einordnung den Vorrang geben muss, entscheidet sie sich für die Relevanz.

Marianna Butenschön erzählt in einer einfachen, klaren und anschaulichen Sprache. Mit souveräner Selbstverständlichkeit verbindet sie Personen und Ereignisse so, dass auch der weniger kundige Leser leicht einen Einblick in die komplizierte Geschichte Russlands erhält. Natürlich muss die Biografin Charlottes auch deren Ehemann beschreiben, und deshalb erfährt Nikolaus I. hier mehr Verständnis als in früheren Biografien. So wird er zwar als der Erfinder der berüchtigten russischen Geheimpolizei geschildert – der wahre Schrecken dieser Institution jedoch wird nur angedeutet. Stattdessen erfahren wir, dass Nikolaus I. den Dichter Puschkin aus der Verbannung zurückholte, obwohl der bei seiner kritischen Haltung blieb. Genau das habe dem Herrscher imponiert, meint Butenschön. Dennoch erliegt die Autorin nicht der Gefahr, historische Ereignisse zu verharmlosen oder um der schönen Anekdote willen zu verbiegen.

Besprochen von Gabriela Jaskulla
Marianna Butenschön: Die Preußin auf dem Zarenthron. Alexandra, Kaiserin von Russland
Piper Verlag, München 2011
416 Seiten, 22,95 Euro