Mütterchen Russland und ihre Verwandten
Der Kultur- und Sozialhistoriker Felix Philip Ingold behauptet, die russische Kultur habe sich vor allem durch äußere Einflüsse entwickelt. So seien Kirchen zum Beispiel von griechischen Baumeistern errichtet und das Verwaltungssystem durch tatarische Beamte eingeführt worden.
Die Matrjoschka, jene als Bauernmädchen bemalte Puppe, die noch jeweils kleinere Puppen in sich trägt, galt um 1900 als Neuheit des russischen Kunsthandwerks. Gefertigt allerdings ist sie nach dem Vorbild japanischer Hohlfiguren. Und die ebenfalls als typisch russisch geltenden Zwiebeltürme gehen vermutlich auf indische Vorläufer zurück.
Felix Philip Ingold, lange Jahre Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands, hat bereits in seiner 2007 erschienenen Studie "Russische Wege" die russische Nationalkultur als eine Nachahmungskultur charakterisiert. In seiner jüngsten Publikation "Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands" hat der Slawist seine These erweitert. Ingold hebt die Rezeptivität des Russentums hervor. Dessen Bereitschaft, sich befruchten zu lassen, belegt er überzeugend an vielen Beispielen.
Schon die Staatsgründung basierte auf Fremdherrschaft: Slawisch-finnische Stämme baten die Wikinger, auf ihrem Gebiet für Ordnung zu sorgen. "Die Kijewer Rus, aus dem später das Moskauer Reich und das Petrinische Imperium hervorgehen sollten, waren (...) ein Wikinger- beziehungsweise Normannenstaat." Auch Namen, die man als typisch russisch kennt, gehen auf germanische Ursprünge zurück. Nach Russlands Christianisierung schufen griechische Baumeister russische Kirchen, später dann tatarische Beamte ein Verwaltungs- und Steuersystem. Unter Iwan III. bauten italienische Handwerker den Kreml um, druckte ein deutscher Setzer die ersten Kirchenbücher in kyrillischer Schrift.
Zwischen 1700 und 1917 lag der Ausländeranteil im Regierungsapparat, in Verwaltung und Armee bei 40 Prozent. Ingold weist nach, dass selbst noch in der Sowjetunion "gerade dort Ausländer herangezogen wurden, wo es um die Schaffung nationaler Werte, Symbole, Bauten, Institutionen ging".
Russlands Ausrichtung nach Westen, seine Imitation des Fremden, bewertet der Autor nicht negativ. Er betrachtet sie als Produktionsform. Als Fähigkeit, Fremdes zu integrieren und eigenen Bedürfnissen nutzbar zu machen. Allerdings sieht Ingold in diesem Verhalten auch Konfliktpotential. Denn der Westen, immer schon Vorbild Russlands, wird gleichzeitig als Rivale gesehen. Gerade seit der Präsidentschaft Putins interpretiert Russland den eigenen kulturhistorischen Sonderfall wieder als Beleg seiner Einzigartigkeit.
Auf gut 200 Seiten vermittelt Felix Philip Ingold kenntnisreich, pointiert und mit der Originalität eines Universalgelehrten ein tiefes Verständnis Russlands. Seine Originalität liegt in der Verschränkung der Details, der Verarbeitung russischer Quellen sowie wissenschaftlicher Sekundärliteratur. Und dabei hat diese kleine Kulturgeschichte auch noch Seele.
Besprochen von Carsten Hueck
Felix Philip Ingold: Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands
Wilhelm Fink Verlag, München 2009
224 Seiten, 19,90 Euro
Felix Philip Ingold, lange Jahre Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands, hat bereits in seiner 2007 erschienenen Studie "Russische Wege" die russische Nationalkultur als eine Nachahmungskultur charakterisiert. In seiner jüngsten Publikation "Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands" hat der Slawist seine These erweitert. Ingold hebt die Rezeptivität des Russentums hervor. Dessen Bereitschaft, sich befruchten zu lassen, belegt er überzeugend an vielen Beispielen.
Schon die Staatsgründung basierte auf Fremdherrschaft: Slawisch-finnische Stämme baten die Wikinger, auf ihrem Gebiet für Ordnung zu sorgen. "Die Kijewer Rus, aus dem später das Moskauer Reich und das Petrinische Imperium hervorgehen sollten, waren (...) ein Wikinger- beziehungsweise Normannenstaat." Auch Namen, die man als typisch russisch kennt, gehen auf germanische Ursprünge zurück. Nach Russlands Christianisierung schufen griechische Baumeister russische Kirchen, später dann tatarische Beamte ein Verwaltungs- und Steuersystem. Unter Iwan III. bauten italienische Handwerker den Kreml um, druckte ein deutscher Setzer die ersten Kirchenbücher in kyrillischer Schrift.
Zwischen 1700 und 1917 lag der Ausländeranteil im Regierungsapparat, in Verwaltung und Armee bei 40 Prozent. Ingold weist nach, dass selbst noch in der Sowjetunion "gerade dort Ausländer herangezogen wurden, wo es um die Schaffung nationaler Werte, Symbole, Bauten, Institutionen ging".
Russlands Ausrichtung nach Westen, seine Imitation des Fremden, bewertet der Autor nicht negativ. Er betrachtet sie als Produktionsform. Als Fähigkeit, Fremdes zu integrieren und eigenen Bedürfnissen nutzbar zu machen. Allerdings sieht Ingold in diesem Verhalten auch Konfliktpotential. Denn der Westen, immer schon Vorbild Russlands, wird gleichzeitig als Rivale gesehen. Gerade seit der Präsidentschaft Putins interpretiert Russland den eigenen kulturhistorischen Sonderfall wieder als Beleg seiner Einzigartigkeit.
Auf gut 200 Seiten vermittelt Felix Philip Ingold kenntnisreich, pointiert und mit der Originalität eines Universalgelehrten ein tiefes Verständnis Russlands. Seine Originalität liegt in der Verschränkung der Details, der Verarbeitung russischer Quellen sowie wissenschaftlicher Sekundärliteratur. Und dabei hat diese kleine Kulturgeschichte auch noch Seele.
Besprochen von Carsten Hueck
Felix Philip Ingold: Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands
Wilhelm Fink Verlag, München 2009
224 Seiten, 19,90 Euro