Mülheimer Dramatikerpreis in der Krise

Von Ulrich Fischer · 29.05.2013
Noch gelten die Dramatikertage in Mühlheim als Referenzwettbewerb für deutschsprachige Theaterautoren. In der Hauptstadt etablieren sich derweil die Autorentage des Deutschen Theaters. Diese könnten den Mühlheimer Wettbewerb ablösen. Dass die Dramatikertage ihre besten Tage schon hinter sich haben könnten, zeigt sich in zweifelhaften Jury-Entscheidungen.
Die Dramatikertage in Mülheim ist neben dem Berliner Theatertreffen noch ein wichtiger Wettbewerb für das deutschsprachige Schauspiel. Während beim Theatertreffen Inszenierungen ausgezeichnet werden, also Schöpfer zweiter Ordnung: Regisseure, Bühnenbildner, Ensembles, werden in Mühlheim die Kreativen erster Ordnung mit Lorbeeren geschmückt: die Dramatikerinnen und Dramatiker.

In Mülheim arbeiten zwei Jurys: Die erste sichtet die deutschsprachigen Stücke, die in einer Spielzeit uraufgeführt worden sind - das waren in diesem Jahr genau hundert, und wählt sechs, meistens sieben, manchmal sogar acht aus – diese haben die erste Hürde geschafft. In diesem Jahr waren acht eingeladen - ein ziemlich untrügliches Zeichen für einen starken Jahrgang. Im Mai wurden alle acht Stücke in Mülheim gezeigt. Im Anschluss an die letzte Aufführung kürte die zweite Jury, ganz unabhängig von der ersten, die Dramatikerin oder den Dramatiker des Jahres. Damit keine heimlichen Absprachen getroffen werden können, diskutiert die fünfköpfige Jury aus Theaterleuten und Kritikern öffentlich.

Siegerin 2013: Die junge Katja Brunner

Sabina Dhein, Direktorin von Hamburgs Theaterakademie, gehörte zu den drei Juroren, die sich für die Siegerin dieses Jahres, Katja Brunner, aussprachen - und damit für ihr Stück "Von den Beinen zu kurz". Das Thema der jungen Schweizerin ist sexueller Missbrauch. Ihre Provokation: Das Stück legt die Interpretationsmöglichkeit nahe, kleine Mädchen könn(t)en ihren Vater lieben - und dann wäre Inzest mit der kleinen Tochter kein Missbrauch. Die Gesellschaft solle sich nicht einmischen, sie zerstöre nur eine wunderbare, subtile Liebesbeziehung - und diese Störung könne fatale Folgen haben - in dem Stück wird angedeutet, dass der Vater sich umbringt.

Als einen der Gründe für ihre Entscheidung nennt Sabina Dhein, dass "Von den Beinen zu kurz" vielseitig deutbar sei. Dhein hofft, es würden sich noch viele Ensembles finden, die ihre eigene Interpretation realisierten.

Tobias Becker vom "Spiegel" entschied wie Sabina Dhein. Er meinte, Katja Brunners Bühnenwerk sei genau richtig fürs Theater - auch wegen des Sujets. Ein Thema wie Missbrauch mit Argumenten, die der gegenwärtigen Diskussion zuwiderliefen, gehöre nicht in die Zeitung, sondern in ein Medium, das sich auf den Tabubruch spezialisiert habe, eben das Theater.

Motive für die Wahl

Beide Gründe sind gut, aber anfechtbar, weil sie auch für andere Stücke des Wettbewerbs gelten - etwa für Elfriede Jelineks "FaustIn and Out" - übrigens ebenfalls ein Stück über Missbrauch. Überdies ist Jelineks Stück provokativer, humorvoller und zielsicherer im Angriff. Kein Wunder, denn Katja Brunner ist Jahrgang 1991, das Theaterstück ihr allererstes. Elfriede Jelinek ist dagegen eine anerkannte Meisterin und wurde sogar mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Vielleicht liegt hier ein verborgener Grund für die Entscheidung der Jury: Die drei Preisrichter, die sich für die Junge aussprachen, wollten Elfriede Jelinek nicht noch einmal den Preis zusprechen, weil sie ihn schon einige Mal bekommen hat und so viele Lorbeerkränze auf ihrem Dachboden verstauben, dass sie nicht noch einen braucht. Eine Anfängerin hingegen könnte den Mülheimer Dramatikerpreis als Startschub gut gebrauchen.

Der auch fehlgehen kann: Einige Dramatiker, die den Mülheimer Preis schon errungen haben, zeigten sich enttäuscht. Der Preis habe ihnen in den Theatern nicht geholfen. Ihre Stücke wurden nicht häufiger angenommen, nachdem sie den Preis erhalten hatten.

Die Auszeichnung leidet, wenn die Jury nicht strikt nach dem Gesichtspunkt der Qualität entscheidet. Wenn Gesichtspunkte wie Jugend oder Nützlichkeit ausschlaggebend sind - und seien die Gründe noch so sympathisch, weil man etwa ein junges Talent fördern möchte -, wird fragwürdig, ob das Stück und die Dramatikerin überragend sind, oder ob sie Glück gehabt hat, weil alle sie nett fanden und ihr helfen wollten.

Staub an der Ruhr

Überhaupt: Die Anziehungskraft der Mülheimer Dramatikertage hat gelitten. Sie wirken in ihrem 38. Jahr angestaubt. Das Deutsche Theater in Berlin veranstaltet Autorentage, in diesem Jahr zum vierten Mal. Im kleinen, aber feinen Programmbüchlein heißt es, die Autorentage seien "das derzeit wichtigste Festival für deutschsprachige Gegenwartsdramatik". Das liest sich wie eine unverblümte Kampfansage an die Mülheimer, und fundiert, weil das Berliner Programm reicher ist als das der Dramatikertage. Dea Lohers "Am schwarzen See" etwa fehlte in Mülheim, in Berlin ist es natürlich zu sehen. Ewald Palmetshofer - in Berlin präsent - lässt Mülheim unberücksichtigt. Oder ein Experiment, wie etwa die Europarede des britischen Premierministers für die Bühne zu gewinnen, ist zwar an der Spree zu bewundern, nicht aber an der Ruhr.

Mülheims Festival müsste sich neu erfinden, um an die Glanzzeiten der Gründerjahre wieder anzuknüpfen und den Konkurrenten aus Berlin Stand zu halten. Ob Udo Balzer-Reher, der derzeitige Leiter, dafür der rechte Mann ist?