"Mr. Nobody"

Im Jahr 2092 erinnert sich der letzte Sterbliche an sein langes Leben: Was wäre, wenn alles anders gekommen wäre? "Mr. Nobody" des belgischen Regisseurs Jaco van Dormael ist eine rätselhafte, geistreich-surreale Geschichte.
Der heute 53-jährige belgische Autor sowie Theater- und Filmregisseur hat mit nur zwei Filmen einen besonderen Cineastenplatz begründet: Sein Debütfilm "Toto, der Held" von 1991 begeisterte als brillante Persönlichkeitsstudie über die verpassten Chancen im Leben eines Mannes; er wurde bei den Filmfestspielen von Cannes als "Bester Erstlingsfilm" prämiert und erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen wie zum Beispiel den "Charlie Chaplin Award" beim Festival in Edinburgh sowie den Europäischen Filmpreis als bester junger Film, für das beste Drehbuch, die beste Kamera und für Michel Bouquet als besten Darsteller.

"Am achten Tag" von 1996 erzählte von der ungewöhnlichen Begegnung und Freundschaft zwischen einem Bankmanager, einem Workaholic, mit einem behinderten jungen Mann mit Down-Syndrom. Die beiden Hauptdarsteller Daniel Auteuil und Pascal Duquenne wurden in Cannes mit der "Goldenen Palme" als "Beste Darsteller" bedacht. Der Film wurde für den Auslands-Oscar nominiert und erhielt den Golden Globe als bester Auslandsfilm.

Nach 14 Jahren taucht Jaco van Dormael mit seinem dritten Werk auf. Es ist eine verwobene, poesievolle, faszinierende, spannende Menschen-Geschichte um die ewige Schicksalsfrage - was wäre wenn…man im Leben so manche Entscheidungen "anders" gefällt hätte? Wenn manche Bewegungen nicht in diese, sondern in jene Richtung geführt hätten? Hin zu anderen Menschen, Themen, Begebenheiten, Regionen? Wenn die Emotionen mehr dorthin anstatt hierher hochgekocht wären? Ein entscheidendes Gespräch "anders" verlaufen wäre? Der ewige triviale Zufall. Was wäre dann passiert/gewesen?

Existenzielle Identitätsfragen mit viel Charme und Erkenntnissen. Aber zunächst: Wir schreiben das Jahr 2092. Die Menschheit hat es "gepackt" in Sachen endlose Zellenerneuerung, endloses Leben. Die Wissenschaft hat den Tod endgültig besiegt. Der allerletzte Sterbliche wird gerade 118 Jahre alt. Nemo Nobody. Und erinnert sich an sein Leben. Das heißt, er versucht es, bemüht sich. Aber immer wieder kommen, tauchen Gedanken auf, die von verschiedenen Sichtweisen, Betrachtungen, Entscheidungen handeln. Was ist wahr? Was nicht? Was ist Traum, was Wunsch, dass es "so" (besser) gewesen wäre?

Der junge Nemo. Neun Jahre alt. Am Bahnhof. Die zerstrittenen Eltern. Wohin soll die Richtung gehen? Beim Papa bleiben? Oder mit der Mama mitfahren? Dormael unterbricht kunstvoll. Ein alter Mann und seine Erinnerungen, ein Kind mit Zukunftsängsten. Die "entscheidenden" drei Mädchen, Frauen: Die kühle Anna (Diane Kruger); die schwermütige Elise (Sarah Polley); die aktive Jeanne (Linh-Dan Pham). Der alte Nemo lässt den Jungen alles "ausprobieren". Spielt die "Möglichkeiten" durch. Während ein völlig aufgelöster Journalist am Greisen-Bett anno 2092 verblüfft zuhört. Von einer Zeit erfährt, die längst Vergangenheit ist. Oder? Und am Ende…

"Das Leben ist voller Löcher, voll sinnloser Szenen und zufälliger Entscheidungen, und es bewegt sich unausweichlich auf den Tod zu. Das macht es so schön", erläutert Jaco van Dormael im Presseheft. Und hinterlässt einen rätselhaften, ironischen, angenehm intelligenten wie geistreich-surrealen Sinn- und Such-Film. Mit viel atmosphärischem Zeit- und intensivem farblichem Personen-Symbol-Geschmack wie Rot-Blau-Gelb-Weiß als virtuose visuelle Identitätsbeschreibung.

Das in 26 Wochen an vielen internationalen Drehorten, mit einem Budget von 32 Millionen Euro realisierte reizvolle Menschenpuzzle besitzt mit Jared Leto einen fantastischen Alt-/Jung-Hauptakteur. Der 38-jährige amerikanische Schauspieler ("Requiem for a Dream") und Gitarrist und Sänger (der Musikgruppe "30 Seconds to Mars") bietet eine grandiose Verwandlungsfähigkeit und packende Charaktertiefe. Eine vorzügliche Darstellung. In einem wunderbaren Erlebnis-Movie: "Mr. Nobody", das sind wir alle. Jeder von uns, wo und wie immer auch tickend.

Kanada/Belgien/Frankreich/Deutschland 2009 - Regie: Jaco van Dormael, Hauptdarsteller: Jared Leto, Sarah Polley, Diane Kruger, Rhys Ifans, 139 Minuten, ab zwölf Jahren.

Filmhomepage