Motor für Veränderungen

11.04.2013
William Gibson schreibt über Literatur, Musik, Mode, Film, die japanische Kultur und Wege in die digitale Zukunft, die sich schon längst in unserer Gegenwart bedrohlich bemerkbar macht. In diesem Essayband liest Gibson die Gegenwart als Science-Fiction-Roman.
William Gibson, Jahrgang 1948. Er ist der Erfinder des "Cyberpunk", jenem Subgenre der Science-Fiction-Literatur, das in den 80er-Jahren das Internet vorweggenommen hat – und zwar mit all seinen Schattenseiten: In seiner "Neuromancer"-Trilogie beherrschen Konzerne die digitale Welt und überwachen und manipulieren mittels moderner Technologie die Menschen. Der Blick in die Zukunft pessimistisch und düster. Ohne William Gibson wären Filme wie beispielsweise "Matrix" nicht denkbar.

Nun liegt unter dem Titel "Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack" eine Sammlung von Gibsons Vorträgen, Rezensionen und Aufsätzen vor. Entstanden sind sie in den Jahren 1989 bis 2011, und wer den Autor unverzeihlicherweise nicht kennt, wird sich nach der Lektüre dieser gut 25 Einzeltexte unbedingt auf seine Romane stürzen wollen. Und das, obwohl Gibson in seiner Einleitung diese Sammlung als "keine Literatur" klassifiziert. Reine Sachtexte seien es jedoch auch nicht, so Gibson weiter, denn er habe sie "aus der Perspektive und mit dem Handwerkszeug des Belletristikautors geschrieben". Gerade das macht ihren Reiz aus - und gibt einen Einblick in die wache, sensible und originelle Wahrnehmungsfähigkeit eines Zeitgenossen, der die Zukunft bereits immer schon in der Gegenwart ausgemacht hat.

Die Menschheitsgeschichte, davon ist Gibson überzeugt, werde von technologischen Entwicklungen bestimmt. Sie seien der Motor für Veränderungen. Besonders gut sei das in einem Land wie Japan zu beobachten, in dem im Gegensatz zur westlichen Welt ein selbstverständlicheres, weniger Ressentiment beladenes Verhältnis der Menschen zu neuen technologischen Produkten herrsche: Verkaufsautomaten, die es ermöglichen, tagelang jeden Blickkontakt mit anderen Menschen zu vermeiden, vollautomatisierte Sushi-Bars, allgegenwärtige "Handy-Mädchen".

Dass Gibson mit Interesse, jedoch keineswegs verklärend auf derlei Phänomene blickt, macht auch sein Artikel über Singapur deutlich. "Disneyland mit Todesstrafe" überschrieb er ihn, erstmals gedruckt wurde er in der Zeitschrift "Wired" – die gleich nach Erscheinen nicht mehr nach Singapur eingeführt werden durfte. Gibson porträtiert darin eine saubere, wohlhabende, aber leblose Stadt, die wirkt wie ein virtuelles Kunstprodukt.

Persönlich, klug, mit Kommentaren versehen, in griffiger, anschaulicher Sprache vermittelt William Gibson, wie faszinierend es für den Menschen ist, seine Welt und seine Möglichkeiten durch Kombination mit künstlichen Organismen technisch zu erweitern. Gleich ob der Autor über sein erstes Fernseherlebnis in den 1950er-Jahren schreibt, die Lektüre von Borges‘ "Labyrinthen" oder seine vorübergehende Sucht, alte Uhren auf Ebay zu ersteigern – immer wieder macht er deutlich, dass alles, was uns wie Science Fiction vorkommt, längst Teil unsere Gegenwartsrealität ist. Die Zukunft sei vorbei, resümiert Gibson. Vor uns lägen nur "noch mehr Ereignisse". Alltag, eben. Allerdings einer, der uns verändern wird.

Besprochen von Carsten Hueck

William Gibson: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack. Gedanken über die Zukunft als Gegenwart
Aus dem Englischen von Hannes und Sara Riffel
Tropen Verlag, Stuttgart 2013
252 Seiten, 21,95 Euro
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