Most wanted: Handwerker

Mit neuen Ideen aus der Fachkräftefalle

Ein junger Mann kontrolliert die Radaufhängung eines Fahrrads.
Noch vor Jahren galt der Beruf des Fahrradmonteurs als aus der Zeit gefallen. Heute gehört er zum trendigsten, was Auszubildende in urbanen Zentren lernen wollen. © picture alliance/Ulrich Baumgarten
Von Richard Fuchs · 12.02.2019
Rund 250.000 Handwerker fehlen in Deutschland. Doch die Branche versucht dem entgegenzuwirken: mit Ausbildung und Studium im Paket, Berufsabitur, Kooperationsmodellen oder Erfindergeist – und auch mit packenden Geschichten auf Youtube oder Instagram.
Eine Kleinstadt im Westen.
Ein kalter Morgen.
Ein Schrei.
High Noon im Haushalt.
Die Heizung droht zu kollabieren.

Auftaktszene im Imagefilm des deutschen Handwerks.
Und eine ganz alltägliche Situation. Oft heißt es dann: warten. Denn es kann mehrere Wochen dauern, bis die Reparatur erledigt ist. Und für größere Arbeiten brauchen die Kunden noch mehr Geduld. Die Auftragsbücher der Heizungsbauer, Elektroinstallateure, Klempner und Dachdecker sind brechend voll. Auch Bäcker, Brauer und Fleischer haben gut zu tun. Fliesenleger, Maler und Maurer sowieso.
Da kommt er: Mit großen Schritten. Kariertes Flanellhemd. Basecap. Breites Kreuz. Ein Handwerker.
Im Film kommt er sofort, der Mann, der Erlösung verspricht.
Beten hilft nicht.
Nur: Schweiß, Kraft, technisches Know-how und Handarbeit.
Doch wer will die heute noch machen? Laut Zentralverband des deutschen Handwerks sind 250.000 Stellen in Deutschland unbesetzt. Tendenz weiter steigend. Dabei geht es dem Handwerk gut. Der Umsatz steigt. 2018 konnte das Handwerk 5 Prozent zulegen.
Geschafft! Der alte, qualmende Ofen ist raus. Die neue Heizung steht. Das Display leuchtet. Ein zufriedenes Grinsen, ein bewundernder Blick.
Das ist Kino. Die Realität bietet seltener ein Happy End.
Most wanted: Nachwuchs.

Offizieller Facharbeiter-Markt leergefegt

Wie das aus der Sicht eines Betriebes aussieht, das weiß Joachim Reif nur zu gut. Seit 20 Jahren installiert die Reif GmbH aus Heroldstatt auf der Schwäbischen Alb Sicherheitssysteme. Einbruchmeldeanlagen, Brandschutztechnik, Videoüberwachung, Zutrittskontrolle. Oft für große Industriekunden, auch für vermögende Privatkundschaft. Der 61-jährige Senior-Chef, der früher Ingenieur im Luft- und Raumfahrtsektor war und erst danach im Handwerk seine Berufung fand, besucht eine Großbaustelle in Ulm. Ein neues Einkaufszentrum wird hier in wenigen Tagen eröffnet. Zwischen leeren Regalen und Kühltheken installieren drei seiner Mitarbeiter Videokameras und Einbruchsmelder.
Joachim Reif: "Das ist eine große Alarmanlage, mit Videoanlagen, ich weiß nicht, wie viel Videokameras werden hier verbaut? Mitarbeiter Dirk Schmald: "Vorbereitet ist es glaube ich für 60, 70 Positionen, tatsächlich verbaut werden jetzt erst mal 31."
Porträt von Joachim Reif im Überwachungskamera-Labor.
Joachim Reif war früher im Luft- und Raumfahrtsektor und fand erst danach seine Berufung im Handwerk – heute installiert er Sicherheitssysteme.© Richard Fuchs
Der bauleitende Monteur Dirk Schmald hat seine Ausbildung in Reif’s Familienbetrieb gemacht. Aktuell sind acht Lehrlinge unter Vertrag. Doch selbst hier, wo ausgebildet wird und wo es um den Nachwuchs noch vergleichsweise gut bestellt ist, fehlt Verstärkung. Im vergangenen Jahr konnte der 40-Personen-Betrieb mit Müh und Not zwei neue Mitarbeiter gewinnen. Allerdings: nur über private Kontakte, betont Reif. Der offizielle Markt an Facharbeitern ist leergefegt.

"Wir könnten zurzeit 10, 15 Leute mehr gebrauchen. Also das ist kein Problem, Aufträge zu kriegen. Wir sind in großen Ketten drin, wie Edeka Südwest, wo man uns anfragt, wir sollen noch ein paar Märkte übernehmen. Aber das können wir nicht, weil uns das Personal fehlt."

Investitionsstau in Milliardenhöhe

Im täglichen Geschäft bedeutet das bei vielen Handwerksbetrieben Ähnliches – und für Kunden selten Gutes: Selbst attraktive Aufträge werden abgelehnt, weil nicht absehbar ist, welcher Mitarbeiter sie umsetzen könnte. Kleinere Aufträge bleiben liegen, was sogar die Stamm-Kunden verzweifeln lässt. Beides schadet dem Renommee. Und besonders Städte und Kommunen, von jeher große Auftraggeber, scheitern immer öfter mit Ausschreibungen, oder, sie zahlen kräftig drauf.

Oft geben Handwerker gar keine Gebote mehr ab, weil zuerst die lukrativeren Aufträge der Privatkunden abgearbeitet werden. Der Schaden lässt sich laut Städte-und Gemeindebund beziffern: Dort spricht man von einem Investitionsstau von 126 Milliarden Euro. Und das Handwerk – und seine Interessenvertreter? Die appellieren und warnen.

"Also dramatisch ist für uns der Befund, dass jeder zweite Betrieb davon berichtet, dass er sich sehr schwertut, neue Fachkräfte, und die Fachkräfte, die er braucht, insgesamt zu bekommen. Und das ist ein Alarmsignal..."

… sagt der Generalsekretär des Zentralverbands des deutschen Handwerks, Holger Schwannecke.
Ein Drittel aller betrieblichen Ausbildungsplätze in Deutschland wird aktuell von Handwerksbetrieben angeboten. Also von Klempnern, Bäckern, Fleischern oder Elektrikern. Von Glasveredlern, Holzblasinstrumentenbauern oder Lebensmitteltechnikern. Bemerkenswert ist: Während der Anteil des Handwerks am Ausbildungsmarkt insgesamt – neben Industrie und Handel – über die Jahre relativ stabil geblieben ist, hat sich eines radikal gewandelt: Die Gesamtzahl der Azubis im Handwerk hat sich in den vergangenen 20 Jahren fast halbiert – auf zuletzt 365.000.

"Wenn wir im Vergleich der Jahre 2006 bis 2016 allein 100.000 Schulabgänger weniger haben, dann zeigt das die Entwicklung, in der wir drin sind. Wir haben einfach zu wenig Jugendliche, die wir dann als Fachkräfte auch tatsächlich ausbilden können."

Gewinner und Verlierer bei den Ausbildungsberufen

Das stimmt, zeigt aber nicht das ganze Bild. Denn auch innerhalb des Handwerks gibt es Gewinner und Verlierer. Vieles hat dabei mit dem Zeitgeist und mit verändertem Konsumverhalten zu tun. Galt der Beruf des Fahrradmonteurs noch vor Jahren als aus der Zeit gefallen, gehört das Konfigurieren von Rädern heute zum trendigsten, was Auszubildende in urbanen Zentren lernen wollen. Nachwuchsorgen: kaum.

Selbst im Ranking von Uni-Magazinen taucht inzwischen unter den Trendberufen, direkt nach dem Drohnenpilot, das Berufsbild des Hörakustikers auf. Ein Handwerksberuf, der von der Digitalisierung profitiert, ebenso wie durch das Älterwerden der Gesellschaft. Auszubildende: garantiert.

Viele traditionelle und altehrwürdige Handwerksberufe dagegen finden nahezu keinen Nachwuchs mehr, darunter Kürschner, Spielzeugmacher, Edelsteinfasser oder Zupfinstrumentenmacher. Aber ist das wirklich verwunderlich?

Und gehören viele dieser Ausbildungsberufe nicht längst eher zum schützenswerten, immateriellen Kulturerbe, als auf den Lehrplan von Jugendlichen, die mit diesem Fundament ihren Lebensunterhalt finanzieren müssen? Von Gewinner- und Verliererberufen will man im Handwerk nicht so recht sprechen:

"Es zieht sich durch alle Branchen, und es zieht sich auch durch alle Regionen."

Gesucht werden vor allem Bauhandwerker, aber auch Bäcker und Metzger. Gesucht werden Gesundheitshandwerker, also Orthopädie-Technik-Mechaniker, oder auch IT-nahe Berufe wie Systemelektroniker.

Mit großangelegten Kampagnen wie der Image-Kampagne "Stolz, Intensität, Hingabe" versucht der Verband das Bild der Branche aufzuhübschen. Es geht dabei um Glücksmomente und um Leidenschaft. Weg vom Schmuddel-Image, das in vielen Köpfen noch herumgeistert, dass Handwerksjobs schmutzig und schlecht bezahlt wären, und dass sie keine Karrierechancen bieten könnten.

Ausschnitt aus der Image-Kampagne: "...alles dreht sich um Erfüllung, so wie sie nur ein Handwerksberuf bietet. Machen wir uns nichts vor: Der Nachwuchs bleibt aus und will umworben werden."
Eine Analyse des Bundesinstituts für Berufsbildung, kurz BIBB, hat den Ausbildungsmarkt strukturell untersucht, und dabei Erstaunliches zu Tage gefördert. Denn ganz gleich ob in der Industrie, im Handel oder im Handwerk: die duale Ausbildung wird "männlicher". Das Interesse junger Männer, nach dem Schulabschluss eine Ausbildung zu machen, hat in den vergangenen Jahren wieder zugenommen. Der Anteil junger Frauen dagegen ist dramatisch eingebrochen.

Beide Trends gehören eingeordnet. Denn dass immer weniger junge Frauen sich um Ausbildungsberufe bemühen, die mit einem Hauptschulabschluss begonnen werden können, ist ein großer Erfolg in Sachen Gleichstellung.

So ist die Zahl der jungen Frauen, die eine Lehre als Friseurin, Hauswirtschafterin oder Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk machen wollen, rapide gesunken. Wohl auch, weil mit den Löhnen, die in diesen Berufen gezahlt werden, kein Auskommen ist.

Anstieg der Ausbildungszahlen durch männliche Geflüchtete

Bei jungen Männern sieht es laut BIBB-Analyse ganz anders aus. Dort hat das Handwerk neue Zielgruppen erreicht, darunter männliche Abiturienten, die im Schnitt schlechtere Abiturnoten haben als junge Frauen. Das Handwerk ist auch attraktiver geworden für männliche Studierende, die im Schnitt häufiger als Frauen ihr Studium abbrechen.
Und das Handwerk zieht vor allem junge, männliche Geflüchtete an, die jetzt den Weg in die duale Berufsausbildung finden. In den letzten drei Jahren ist das einer der Hauptgründe, warum die Auszubildendenzahlen im Handwerk auf niedrigem Niveau leicht angestiegen sind.

Das Geschlecht wird also zunehmend zu einem bestimmenden Faktor für die Entscheidung für oder gegen eine Ausbildung im Handwerk. Ebenso wie der Faktor Bildung ein stetig wachsendes Gewicht bekommt. Hier gilt: Der Trend zu höheren Bildungsabschlüssen ist ungebrochen. Die Hälfte eines Jahrgangs hat inzwischen das Abitur. Für das Handwerk wird das zur zentralen Herausforderung, denn bisher entscheiden sich nur 13 Prozent der Abiturienten für eine Ausbildung. Und das hat Folgen: Macht heute nur noch jeder vierte Jugendliche eine Lehre, ist es in Zukunft vielleicht nur noch jeder Siebte, oder gar nur noch jeder Achte?

Mindestens drei Schlüsse lassen sich aus diesen Erkenntnissen ziehen. Erstens: Abiturienten müssen – die derzeitigen Bildungstrends fortgeschrieben – zu einer zentralen Zielgruppe für die Nachwuchsgewinnung im Handwerk werden.

Zweitens: Sollen Ausbildungsplätze, die früher vor allem von Frauen besetzt wurden, erhalten bleiben, müssen sie für die steigende Zahl männlicher Bewerber attraktiver werden. Und drittens: Handwerksbetriebe werden gänzlich neue Wege gehen müssen, um ihre Attraktivität selbst zu steigern.

All das sind große Herausforderungen, für die es konkrete Lösungen braucht – und, das ist die gute Nachricht, in vielen Fällen auch schon heute gibt.

Betriebliche Ausbildung für Abiturienten wird attraktiver

Beispiel Bildung, und die Frage: Wie wird die betriebliche Ausbildung für Abiturienten attraktiver? Der Schlüssel liegt darin, Bewerbern die Angst davor zu nehmen, dass die Entscheidung für eine betriebliche Ausbildung eine Entscheidung gegen andere, auch akademische Bildungswege ist.

Das gelingt, wenn aus betrieblicher Ausbildung und Studium ein Kombipaket wird. Ein solch duales Studium ist das "Biberacher Modell".

Wie das funktioniert, das lässt sich an der Karl-Arnold-Schule, einer Gewerbeschule im baden-württembergischen Biberach besichtigen. Ein Ort, an dem das theoretische Wissen in Bau-, Metall- und Kraftfahrzeugtechnik vermittelt wird. Aber auch für Ernährungsberufe oder für Raumgestalter. Und seit Herbst 2015 sitzen hier unter den Schülerinnen und Schülern erstmals auch Studierende.
Porträt der Auszubildenden Marius Raff (r.) und Felix Opphold
Die Auszubildenden Marius Raff (r.) und Felix Opphold haben sich für eine Kombination von Ausbildung und Studium entschieden.© Richard Fuchs
"Hallo, ich bin der Marius Raff, 19 Jahre alt und mache das Biberacher Modell, Projektmanagement, Schrägstrich Bauingenieur, dabei machen wir eine normale, verkürzte Zimmerer-Lehre in zwei Jahren, und nebenher bereits das erste Semester in dem Studiengang und anschließend folgen dann noch die weiteren sechs Semester."

"Ich bin der Felix Opphold, ich mach das Biberacher Modell zum Anlagenmechaniker, Sanitär, Heizung, Klima, zu Energie- und Gebäudetechnik, so ist richtig. Da macht man erst eine Ausbildung, zweieinhalb Jahre zum Anlagenmechaniker, Sanitär, Heizung, Klima, die ist auch verkürzt. Und dann dreieinhalb Jahre Studium zum Ingenieurwesen Energie- und Gebäudetechnik."

Marius und Felix sind beide 19. Beide haben das Abitur in der Tasche. Und beide wollen möglichst viele Optionen für ihre berufliche Zukunft.

Felix: "Jetzt macht man die Ausbildung, dann kann man on top eben dann weitermachen, Meister, Studium zum Ingenieurwesen, oder man arbeitet weiter als Anlagenmechaniker, und bildet sich praktisch in diesem Ausbildungsberuf weiter. Und dadurch das das so vielfältig ist, ist das auch für Abiturienten keinesfalls abwegig, also dass die jetzt sagen, da bin ich theoretisch unterfordert."

Felix macht seine Lehre in einem Elektrotechnikbetrieb. Drei Monate arbeitet er dort, dann hat er einen Monat Berufsschule. Und in dieser Zeit sitzt er zusätzlich in Mathematik- und Elektrotechnik-Vorlesungen. Marius, den Zimmerer-Azubi und Bauingenieurs-Student überzeugt das Kombi-Modell, weil sich vieles einfach so gut ergänzt.

"Weil hier in der Berufsschule kriegen wir was mit. Und am Montag mach ich das in der Werkstatt, irgendwas über Wärmebrücken. Dann geh ich am Dienstag rüber, setz‘ mich in die Vorlesung, Bauphysik, haben wir genau das. Nur, nicht speziell für einen Zimmerer, Holzständerwände, sondern allgemein und natürlich noch tiefer ins Detail rein. Aber man hat sofort einen Praxisbezug da. Das ist echt top."

In vielen Handwerksberufen steigen die Anforderungen

Aufmerksam zugehört hat Professor Stefan Hofmann. Der 54-Jährige unterrichtet an der Fachhochschule Biberach Mathematik – und ist für die Abläufe beim Biberacher Modellprojekt verantwortlich. Für ihn liegt der vielleicht größte Vorteil des Projekts darin, sinnlose Studienabbrüche zu verhindern.

"Also, was wir im Moment beobachten in unserem Modell, ist, dass wir Leute anziehen, eine Ausbildung im handwerklichen Bereich zu machen, mit der Aussicht auf ein Studium. Aber nicht alle das machen, und diejenigen, die dort das Studium nicht machen, davon profitiert das Handwerk auf jeden Fall. Da haben wir Leute angezogen, die haben dann eine Facharbeiterausbildung, und wollen dann gar nicht das Studium. In unserem Modell ist das leicht möglich. Und dann hat man doch ein paar Leute generiert, die man vielleicht vorher nicht gehabt hätte."
Renate Granacher-Buroh, die Schulleiterin der Gewerblichen Schule Biberach, ist allerdings davon überzeugt, dass nicht alle Handwerksberufe gleichermaßen von solchen Ansätzen profitieren. Auch sie spricht über Gewinner – und Verlierer:

"Es gibt Berufe, die zwar heute dual ausgebildet werden, aber deren Anforderungen sich enorm entwickelt haben. Also wenn sie die Ausbildungsbilder von Mechatronik oder Bau, egal ob Maurer, Zimmerer oder Sanitär, Heizung anschauen: da ist sehr, sehr viel theoretisches Wissen dazugekommen, und sehr viel planerische Tätigkeit auch dazugekommen. Das heißt, es wird vermutlich so sein, dass einige einfache Ausbildungsberufe vielleicht entfallen, Floristen, oder sich andere Wege suchen, und es wird so sein, dass es tatsächlich duale Ausbildungsberufe gibt, die hochanspruchsvoll sind, und die tatsächlich für Absolventen mit mittlerer Reife oder mit Abitur die richtige Wahl sein werden."

Handwerk macht sich für das Modell Berufsabitur stark

Doch die Idee, allgemeinbildende Schulkarriere und betriebliche Ausbildung enger zu verzahnen, bietet noch mehr Möglichkeiten, finden sie beim Zentralverband des deutschen Handwerks, ZDH in Berlin. Deshalb kommt der Impuls für weitere Schulreformen von hier, was ein Novum darstellt.

Das Handwerk macht sich bei der Kultusministerkonferenz der Länder für das Berufsabitur stark. Pilotprojekte gibt es bereits in einigen Bundesländern. Ginge es nach dem Handwerk, sollte aus den Projekten ein bundesweites Modell werden.

Hinter dem Begriff des Berufsabiturs steckt für ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke:

"… ein doppelt qualifizierender Abschluss, in vier Jahren, Gesellenabschluss plus Hochschulzugangsberechtigung. Das ist ein Instrument, dass sich an leistungsstarke Jugendliche richtet, dass in anderen Ländern, Österreich, Schweiz, Dänemark, sehr, sehr gut läuft und mit dem es dort gelingt, junge Menschen in beruflichen Ausbildungsbereichen und nachher im Beruf zu halten, und sie nicht abdriften, abwandern zu lassen in den akademischen Bereich. Ihnen aber die Sicherheit zu geben, diese Wanderungsbewegung gleichwohl vollziehen zu können, wenn sie das denn möchten. Es geht um ein Stück Sicherheit, was ich vermittle, das da lautet: Es gibt keine Einbahnstraßen bei deiner Entscheidung für einen Ausbildungsweg. Du hast alle Möglichkeiten."

In Österreich, der Schweiz und Dänemark hat das Berufsabitur dazu geführt, sagt Schwannecke, dass 50 Prozent der Jugendlichen in dieser Schulform später in Handwerksbetrieben bleiben. Ob das in Deutschland auch der Fall wäre, das lässt sich natürlich noch nicht sagen. Den Status quo verbessern, würde es aber allemal. Bislang beklagen die Betriebe, dass die ausbildungswilligen Abiturienten zwar willig, aber alles andere als reif fürs Handwerk seien, wie ein Elektrotechnikermeister aus Baden-Württemberg berichtet.

"Also natürlich kann man auch aus dem Gymnasium die Leute rekrutieren. Nur ist es für uns schwer, weil die alle sehr praxisfremd sind, was ja von der Schulsituation auch gewünscht wird. Und für uns ist dann hier sehr schwierig, mit einem sehr gebildeten Menschen bei null anzufangen."
Die Bildungslandschaft ist in Bewegung gekommen, nicht zuletzt, weil immer mehr Bundesländer auch eine verpflichtende Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen einführen. Und immer mehr Handwerksbetriebe erkennen den Wert von Berufspraktika für Schüler egal welcher Leistungsstufe. Dass Deutschlands Bildungspolitik dennoch zentrale Fragen vernachlässigt, davon sind viele Handwerksmeisterinnen und Meister überzeugt:
"Also die Grundkenntnisse der deutschen Rechtschreibung, das ist furchtbar. Also mit einer Mittleren Reife sollte man ein bisschen besser Deutsch beherrschen. Mathematische Grundkenntnisse sind oft auch nicht besonders toll. Ich weiß nicht, wie manche die Mittlere Reife mit diesen Kenntnissen schaffen. Aber irgendwie scheint es zu funktionieren."

"Was ich auch feststelle, logisches Denken und Handeln kann man nicht mehr voraussetzen. Die Generation, die jetzt gerade eine Ausbildung macht, ist anders zu sehen wie noch vor 15 Jahren. Sachen, die dort selbstverständlich waren muss man heute nochmal explizit sagen."

Handwerkermangel lässt die Löhne steigen

Für viele macht das die Entscheidung, weiter auszubilden, noch schwerer. Denn die Häufigkeit, mit der die mit viel Aufwand ausgebildeten Mitarbeiter in Richtung Industrie abwandern, wird eher zu- als abnehmen. Handwerksmeister Joachim Reif glaubt dennoch, dass sich dieser Trend umkehren kann.
"Wenn ich heute vergleiche, das Handwerk zur Industrie: Jeder strebt in die Industrie, weil dort deutlich besser bezahlt wird als im Handwerk. Und das ist, finde ich, ein Riesen-Mangel. Das wird sich aber in ein paar Jahren deutlich ändern."

Gute Handwerker werden noch gefragter sein als heute. Und das lässt dann natürlich auch die Löhne steigen, sagt Reif. Arbeitsmarktexperten unterschiedlichster Institute sehen das ähnlich.
Bleibt die Frage, was der einzelne Betrieb tun kann, um seine Attraktivität für potentielle Mitarbeiter zu steigern? Für Joachim Reif auf der Schwäbischen Alb heißt die Antwort: mehr kümmern.

"Wir machen uns heute viel mehr Gedanken, wie wir unsere Mitarbeiter auswählen, wie wir die fördern, was wir denen Gutes tun können, also wir haben auch gerade für unsere Stamm-Mitarbeiter auch ein Programm gestartet, wo wir die Altersversorgung verbessern. Wo wir auch gemeinsam was unternehmen, mit den Mitarbeitern, das man Incentives schafft."

Andere Betriebe versuchen es mit Lockangeboten – und sie gehen dafür immer häufiger ins Netz, um dort nach Aufmerksamkeit zu fischen.

"Moin, ich habe zwei Ausbildungsplätze zu vergeben. Mich interessiert nicht, wo du herkommst, oder welche Schulbildung du hast..."
Mit diesem Video landete Glasermeister Sven Sterz aus Norddeutschland einen Internet-Hit. Eineinhalb Millionen Menschen klickten das Video auf Facebook binnen weniger Tage an.

"Und jetzt mach ich dir ein Angebot, das muss ich ablesen, das kann ich selbst kaum glauben…"

Dutzende Bewerbungen flatterten ins Haus. Über 15 Bewerbungsgespräche wurden geführt. Dass der Glasermeister mit 100 Euro extra aufs monatliche Azubi-Gehalt warb, und Zuschüsse für Führerschein und gute Schulnoten in Aussicht stellte, das nahmen ihm viele Handwerkskollegen übel. So entwerte man eine gute betriebliche Ausbildung, bei der sich der Meister, die Meisterin, viel Zeit nehme, um dem Nachwuchs die handwerklichen Fertigkeiten beizubringen.
Dass es aber auch attraktive Angebote für Mitarbeiter gibt, die ganz ohne finanzielle Anreize auskommen, das beweisen andere Betriebe.

Mit Erfindergeist auch den Nachwuchs überzeugen

Ein Besuch bei der Frick GmbH. Einem Holzbau- und Schreinereibetrieb mit Sitz in Eichstegen-Altshausen. Einem 500-Einwohner-Dorf in Oberschwaben, wenige Kilometer von Ravensburg entfernt. Das Betriebsgelände liegt im Ortskern. Ist quasi der Ortskern des Weilers, umgeben von Feldern, Streuobstwiesen und der betriebseigenen Biogas-Anlage.

Auch Zimmerer-Meister und Geschäftsführer Egon Frick sucht auf seiner Webseite Verstärkung für sein 22-köpfiges Team von Schreinern und Zimmersleuten, bauleitende Meister, Gesellen, fortbildungswillige Meister-Kandidaten, Auszubildende. Die ganze Palette. Wirklich eilig hat er es mit der Suche aber nicht.

"Mir haben die letzten eineinhalb Jahre bewusst nicht mehr Mitarbeiter gesucht, weil wir gesagt haben, wir wollen mit einem neuen Produkt, mit einem nachhaltigen Produkt auf den Markt."

Was das für ein neues Produkt ist, das will an diesem Dienstagmorgen auch eine Gruppe neugieriger Besucher wissen. Der Landrat vom Kreis Ravensburg, und weitere Spitzenvertreter der regionalen Handwerkskammer, sind angereist.
Porträt von Zimmerer Egon Frick
Zimmerer-Meister Egon Frick arbeitet an einem neuen Produkt, er möchte nachhaltig Holzhäuser bauen.© Richard Fuchs
Egon Frick, ein durchtrainierter, kräftiger Mann mittleren Alters, mit kurzem, braunen Haar, 3-Tage-Bart und der typischen schwarzen Zimmermanns-Hose mit großem Silberschnallen-Gürtel, steht in seinem Showroom, und erklärt den Besuchern ein hölzernes Rechteck vor sich. Das ist das Stück einer Holzwand, eine Art Lego-Baustein aus verstrebten Holzlatten - gefüllt mit einer Stroh-Dämmung. Eine Entwicklung aus seinem Haus, mit der Holzhäuser zusammengesteckt werden können.

"Alles was eins ist, ist Pfosten, alles was zwei ist, die Diagonalschalung. Also dieses hier, Latten, Unterkonstruktion, für Fassade."

Egon Frick begeistert seine Zuhörer mit einer Mischung aus Macher-Spirit, Traditionsbewusstsein und Pioniergeist. Im Baukastensystem will Frick Fertig-Holz-Häuser bauen, die ihren Namen Holzhaus wirklich verdienen, sagt er. Also ein Holz-Haus ganz ohne Plastik, und weitgehend ohne Metallbauteile. Das soll gesundes Wohnen auch für Allergiker möglich machen.

"Ich will ein richtig gutes Produkt auf den Markt bringen. Und ich sehe das als Investition ins Know-how und in die Zukunft, weil, wenn ich das belegen kann und dann preisgleich bin, wie jeder andere, ein besseres Verkaufsargument kann ich gar nicht haben."

So soll nicht nur ein Produkt entstehen mit Alleinstellungsmerkmal. Sondern auch ein Hingucker, für alle, die auf der Suche nach einem Job mit Sinn sind, sagt Frick. Ganz egal ob die künftigen Mitarbeiter von der Hauptschule, von der Realschule, dem Gymnasium oder der Hochschule kommen.

"Ich denke, man muss neue Wege gehen, um auch junge Menschen zu überzeugen."

Egon Frick will seine Firma fit für den Arbeitsmarkt der Zukunft machen. Neben traditionellen Handwerkerstellen schafft er damit auch andere Jobprofile, die für die Herstellung, den Vertrieb und die Vermarktung seines Fertig-Holzhauses nötig sind. Für ihn, eine logische Entwicklung. Schließlich hat er schon heute einen früheren Bankkaufmann im Team, der jetzt mit Leidenschaft Zimmermann lernt.

"Wenn jemand will, etwas bewegen will, geht das immer."

Noch setzt Egon Frick nicht auf Social-Media-Kanäle, Youtube-Videos oder Instagram-Bilder. Geschichten von und übers Handwerk, über seine Philosophie, und vor allem über sein Projekt, die erzählt er aber schon heute gekonnt.

Ob er damit Erfolg hat, wird erst der Start der neuen Holzhaus-Firma im Verlauf dieses Jahres zeigen. Dass Handwerksbetriebe in Zukunft mehr über sich, ihre Produkte und ihr unverwechselbares Profil reden müssen, um für neue Mitarbeiter attraktiv zu werden, das wirkt aber einigermaßen einsichtig. Hoffentlich spricht es sich herum.

Neue Kooperationsmodelle können Überleben sichern

Doch viele Herausforderungen, vor denen das Handwerk steht, lassen sich wohl nicht allein mit packenden Geschichten, mit Innovation, mit Erfindergeist oder mit Durchhaltewillen bewältigen. Die ungeklärte Unternehmensnachfolge gehört für viele kleinere und mittlere Handwerksbetriebe am Ende dazu – und verbindet das Thema Handwerkermangel mit der ganz großen Frage, ob es überhaupt als einzelner Betrieb weitergehen kann. In den nächsten fünf bis zehn Jahren brauchen schätzungsweise 150.000 bis 200.000 Handwerksbetriebe einen Nachfolger, eine Nachfolgerin als Geschäftsführer. Der Bedarf ist also riesig.

"Man tut sich schwer, Stellen neu zu besetzen, und hat in Einzelfällen sogar schon rentable Betriebszweige schließen müssen, weil sich keine Nachfolger dort mehr gefunden haben."

Hier kommen neue Kooperationsmodelle ins Spiel, sagt Michael Roth vom Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband. In diesem Verband haben sich zum Beispiel Bäcker und Metzger zu Einkaufsgenossenschaften zusammengeschlossen.
Er rät Handwerkern, jetzt, wo die Konjunktur brummt, auch im operativen Geschäft über Verbund- oder Genossenschaftsstrukturen nachzudenken. Einige Bäcker, die Roth betreut, sind gerade dabei, entsprechende Ideen anzugehen.

"Und Idee ist hier eben zu sagen, warum schließen sich nicht ein paar Unternehmen aus einer Region zusammen, und jeder tut das, was ihm am meisten liegt. Der eine ist dann eher Konditor, der andere backt lieber die Brezeln. Der nächste hat sich auf Holzofenbrot spezialisiert. Und die ergänzen sich sozusagen, tauschen die Sortimente untereinander aus, bieten den Kunden dann letztlich unterm Strich wieder ein volles Sortiment, aber jeder konzentriert sich auf das, was er am besten kann. Und, vielleicht kleiner Nebenaspekt: das Thema Work-Life-Balance ist dann vielleicht auch nicht mehr ganz so strapaziert."

Noch ist die kooperative Lösung die Ausnahme, nicht die Regel. Ob das in Zeiten der Digitalisierung so bleiben kann, ist fraglich. Denn gerade mit Blick auf die Plattform-Ökonomie von Google, Facebook und Amazon wird immer deutlicher: In bestimmten Fragen können Größenvorteile entscheidend sein. Das kleinteilig strukturierte Handwerk kommt da an seine Grenzen.

Eine Handwerker-Genossenschaft kann diese Größenvorteile schaffen, bei der gemeinsamen Anschaffung von Software wie bei der gemeinsamen Bewältigung bürokratischer Auflagen.

Michael Roth warnt allerdings davor, die Sache mit der Zusammenarbeit auf die lange Bank zu schieben: Denn kooperieren zwischen gut funktionierenden Handwerksbetrieben, das geht eben nur so lange, wie es noch genügend Kooperationspartner gibt.

"Jetzt ist die Zeit, die Weichen zu stellen. Jetzt ist die beste Zeit dazu."
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