Mord an Heiligabend

Rezensiert von Carola Wiemers · 08.12.2005
Literaturprofessor und Ibsen-Kenner Pål Andersen macht es sich an Heiligabend gemütlich, als er im gegenüberliegenden Haus einen Mord beobachtet. Statt diesen Mord aufzuklären, interessiert sich der Autor Dag Solstadt fortan nur für das Getriebensein seines Protagonisten.
Die traditionellen Rituale um das Weihnachtsfest sind oft Gegenstand literarischer Texte, da sich im himmlischen Rausch der Glitzerwelt auch ketzerisch auf die unerfüllten Sehnsüchte und Träume irdischen Daseins verweisen lässt. Vor allem im nordeuropäischen Raum beherrscht die Figur des "jultomte", umwimmelt von Wichteln, zur Weihnachtszeit die Szenerie. Schließlich weiß heute jedes Kind, dass der Weihnachtsmann in einem kleinen finnischen Dorf am Fuße des Berges Korvatunturi wohnt.

Greift ein Autor wie der Norweger Dag Solstad (geb. 1941) allerdings nach diesem Stoff, muss mit allem gerechnet werden. Solstads Romane, Theaterstücke und Essays gehören seit vielen Jahren zum Feinsten, was die literarische Szene Norwegens zu bieten hat. Denn Dag Solstad versteht es überraschende Perspektiven einzunehmen, er entwickelt Anti-Sujets und verlangsamt sein Erzähltempo in solcher Weise, dass es dem Leser in den Finger- und Sehnervspitzen kribbelt.

Also beginnt auch der Roman Professor Andersens Nacht mit einer langen Szene, die einen skurrilen, emotional verschnupften Protagonisten präsentiert, der gerade im Begriff ist, einen perfekt organisierten Heiligabend mit sich allein zu verbringen. Es ist der Literaturprofessor und Ibsen-Kenner Pål Andersen. Ein prachtvoll geschmückter Weihnachtsbaum zentriert den Raum und der Geruch des fertigen Bratens durchströmt die Wohnung, im Kamin knistert das Feuer, der Cognac steht bereit. Und umhüllt von den erzählerisch sorgsam ausgebreiteten Details murmelt Pål Andersen selbstvergessen vor sich hin:

"Seltsam, wie tief Heiligabend in uns sitzt."

Mit dem Kaminfeuer knistert es auch erwartungsvoll in Solstads Roman und wie ein Schatten scheint der Klassiker Henrik Ibsen plötzlich den Raum zu betreten und dem sich selbst Feiernden ein aufmunterndes "skål" (Prosit) zuzurufen. Dieses Prosit kann als Ouvertüre gelesen werden, mit dem das grandiose Modell einer facettenreichen und listigen Sinn- und Lebenskrise ausgebreitet wird, die bei der Lektüre paradoxerweise Genuss beschert und neuen Sinn stiftet.

Denn während Andersen dank des üppigen Festschmauses und der betäubenden Wirkung des Alkohols emotionslos die familiären Festtagsrunden im gegenüberliegenden Wohnhaus betrachtet, scheint sein Blick plötzlich wie eingefroren. Zwischen die bekannten Tableaus schiebt sich wenige Augenblicke lang ein Bild, das nicht in Andersens Seelenidylle passt: eine Frau wird von einem Mann erwürgt.

Wie in einem Guckkasten wird danach der Vorhang geschlossen und Solstad denkt nicht daran, diesen Vorhang auch nur einen Spalt weit wieder zu öffnen. Sein Interesse gilt fortan dem seltsamen Getriebensein des Protagonisten, der, geübt in literatur- und kulturkritischen Analysen, nun selbst zum Gegenstand einer entlarvenden sozialen Analyse wird. Als Pate steht ihm Henrik Ibsen spöttisch zur Seite, der bereits vor einem Jahrhundert ahnte, wer die wirklichen "Stützen der Gesellschaft" sind.

Dag Solstad: Professor Andersens Nacht
Roman. Aus dem Norwegischen v. Ina Kronberger.
Dörlemann Verlag Zürich 2005
200 Seiten. 19,80 Euro.