Moralischer Anspruch und Wirklichkeit

Moderation: Gisela Steinhauer |
Die katholische Kirche kommt nicht aus den Schlagzeilen. Seit Ende Januar sind in Deutschland weit mehr als 100 Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester, Ordensleute und Laien ans Licht gekommen. 20 von insgesamt 27 deutschen Bistümern sind betroffen. Und täglich melden sich mehr Opfer.
Eine der Anlaufstellen ist das Nottelefon der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“. Auch hier verzeichnen die Mitarbeiterinnen eine stärkere Nachfrage. Oft – so die Mitgründerin Annegret Laakmann – meldeten sich die Hilfesuchenden erst nach 30, 40 Jahren. Deshalb spricht sie sich für eine Aufhebung der Verjährungsfristen dieser Missbrauchstaten aus.

Gemeinsam mit anderen Frauen engagiert sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen in der katholischen Kirche. Sie ist Mitbegründerin mehrerer reformerischer und kirchenkritischer Initiativen, u.a. der Initiativen „Lila Stola“ und „Maria von Magdala“, die sich für Frauen im Priesteramt einsetzen.

Ihr Wahlspruch: „Christus hat die Menschen, nicht bloß die Männer erlöst“. Ihre Forderung: „Die Kirche muss sich für die Justiz öffnen. Außerdem sollte sie einen Entschädigungsfonds für Opfer einrichten. Viele von ihnen brauchen Unterstützung, etwa in Form einer Therapie. Drittens fordern wir die Neutralität von Ansprechpartnern, das heißt, die Kirche sollte Opfern unabhängige Fachleute als Kontakt anbieten und keine Priester.“

„Wir sind Kirche“ setzt sich zudem für die Abschaffung des Pflichtzölibats ein und für eine stärkere Demokratisierung der Katholischen Kirche.

Welche Vorbildfunktion können die Kirchen noch haben?
Welche Rolle können sie im 21. Jahrhundert noch spielen?
Taugen sie noch als moralische Instanz?


Diese Fragen beschäftigen auch Herbert A. Gornik, evangelischer Theologe und Redakteur im Deutschlandradio Kultur.

„In der Katholischen Kirche ist nicht nur der Zölibat das Problem. Die Veränderung muss vom Kopf her beginnen. Der Priester in der katholischen Kirche ist Christus‘ Ebenbild auf Erden. Weil ich mich als Stellvertreter des Papstes empfinde, kann ich mit stolz geschwellter Brust durchs Leben gehen. Seht her, was ich tue, hat bei mir höheren Wert.“

Dies betreffe – leider – auch den Missbrauch. Die Täter hielten sich für berufen und unfehlbar und seien daher auch so schwer zu kritisieren. Darunter leide jedoch das Ansehen der Kirche allgemein.

Seine Überzeugung: „Kirche ist mehr als die Dummheit ihrer Würdenträger. Kirche ist Heimat, sonst wären auch nicht so viele Frauen trotz allem in der Katholischen Kirche aktiv.“

Kirche sei Aura, zum Beispiel, wenn man einen anregenden Gottesdienst miterlebe, Kirche sei Schutz, eine Feste in schweren Zeiten.

„Deshalb gibt es auch das Glaubensbekenntnis, weil dieser Jesus Sohn Gottes ist. Und das ist mehr als die Verfehlungen ihrer Amtsträger.“

Dies beziehe sich auch auf die Evangelische Kirche, die durch den Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann erschüttert wurde. Sie war nach dem Überfahren einer roten Ampel mit einem Alkoholwert von 1,54 Promille gestoppt worden.

„Margot Käßmann hat das Richtige getan, obwohl Rücktritt nicht immer das Richtige ist.“

Aber so, wie sie Amt und Anspruch mit einander vermischt habe, habe sie nicht weitermachen können. In ihrer weltlich-offenen Art stecke eben auch das Problem und eine der Kernfragen:

„Wollen wir Amtsträger, die ein solch menschliches Gesicht haben?“

Moralischer Anspruch und Wirklichkeit – Die Kirchen in der Glaubwürdigkeitskrise.
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Annegret Laakmann und Herbert A. Gornik. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de

Links:
Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“
Nottelefon von „Wir sind Kirche“
Bundesweite Rufnummer 0180-3000862 (9 ct pro Minute) oder E-Mail an zypresse@wir-sind-kirche.de