Moral und Kunst im Widerspruch

13.07.2011
Mit origineller Klugheit beschreibt der Philologe George Steiner in "Im Raum der Stille" die Verquickungen von menschlicher Grausamkeit und der Liebe zur Kunst. Sein Essayband ist höchst intellektuell - und trotzdem gut lesbar.
Eine Kernfrage des international renommierten Philologen, Kritikers, Schriftstellers George Steiner umkreist den widersprüchlichen Zusammenhang von Moral und Kunst. Es ist leicht vorstellbar, dass diese Frage seiner unmittelbaren biografischen Erfahrung entstammt. Steiner, der 1929 als Kind österreichischer Juden in Paris geboren wurde, 1940 mit seiner Familie auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA emigrierte, äußerte von Beginn seiner wissenschaftlich-publizistischen Laufbahn an den Schauder darüber, dass sich höchste Grausamkeit und hohe, feinsinnige Kunstliebe in einer Person vereinen können.

Hans Frank beispielsweise, ein ranghoher Nationalsozialist, der die sogenannte "Endlösung" der Judenvernichtung in Osteuropa leitete, sei daneben ein exquisiter Kenner der Werke von Bach und Mozart gewesen. Wie kann, so fragte George Steiner immer wieder, der humane Sinn der Kunst glaubhaft sein, wenn sie als Genussmittel der Inhumanität taugt ?

Dies erinnert an das Diktum Theodor W. Adornos, nach Auschwitz könne es keine Gedichte mehr geben, denn sie haben ihre Unschuld verloren. Beide Emigranten, Adorno wie Steiner, hörten allerdings auch nach 1945 nicht auf, sich eingehend und leidenschaftlich mit Philosophie und Literatur, mit Kunst und Musik zu beschäftigen, aber ein Grundton moralischer Desillusionierung ist aus beider Schriften nicht wegzudenken.

Diesen Grundton trägt George Steiners Essay "Der Kleriker des Verrats" über das Rätsel des englischen Kunstkritikers Anthony Blunt. Er führte lange Jahre ein moralisch verwerfliches, abgebrühtes Doppelleben als Geheimagent des KGB sowohl in der Zeit des Zweiten Weltkriegs als auch in der Zeit des Kalten Krieges. Erst in den 60er und 70er-Jahren wurde der politische Verrat des brillanten Kunstkenners publik.

George Steiner sucht den Schlüssel zu Blunts schizoider Biografie. Sein Essay wurde vor dreißig Jahren im "New Yorker" veröffentlich, er hat an Aktualität nicht verloren, eher noch gewonnen durch die Enthüllungen nach 1989 über die Stasi-Mitarbeit von Schriftstellern der ehemaligen DDR oder über die Geheimnisdienstverpflichtung von Dichtern aus dem rumänischen Banat, die im vergangenen Jahr für Entsetzen der literarischen Öffentlichkeit sorgten.

Keineswegs alle Schriftsteller, die George Steiner in dem unter dem Titel "Im Raum der Stille" versammelten Essays beschreibt, haben für Geheimdienste gearbeitet. Aber alle sind in der einen oder anderen Weise Grenzgänger. Louis-Ferdinand Celine wie Paul Celan, Albert Speer wie Elias Canetti. Bis in die 70er-Jahre reichen die Erstveröffentlichungen dieser Essays zurück. Alle erschienen in der Zeitschrift "New Yorker", im Kontext von literarischen Erzählungen und Reportagen also.

Steiners Texte zeugen zwar von einer stupenden abendländischen Bildung und von theoretischer Brillanz, aber sie sind überraschend leicht lesbar, auch für nichtakademische Leser ein Genuss an stilistischer Schönheit und federnder, origineller Klugheit.

George Steiner Essayband "Im Raum der Stille" hat nur einen Makel, seiner deutschen, beim Frankfurter Suhrkamp erschienenen Ausgabe fehlt dringend ein Nachwort, das die Texte einordnet und in das Gesamtwerk Steiners einführt. Ohne jeden Kommentar steht der Band ein wenig nackt im Raum.

Besprochen von Ursula März

George Steiner: Im Raum der Stille
Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
272 Seiten, 22,90 Euro
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