Moral ist alternativlos

29.10.2013
Beide hatten ganz andere Pläne: Doch dann wird der eine erpresst, der andere in die Familienaffären eines Freundes hineingezogen. In "Ein diskreter Held" erzählt der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa gleich zwei Geschichten von Männern, die an ihren moralischen Werten festhalten.
Zwei Geschichten erzählt dieser Roman und sie haben im Verlauf der Handlung lange nicht das Geringste miteinander zu tun. Da ist der Fuhrunternehmer Felícito in einer Provinzstadt im Norden Perus, ein Familienvater mit zwei erwachsenen Söhnen, der sich aus ärmsten Verhältnissen hochgearbeitet und es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hat. Als er eines Tages einen in höflichstem Kanzleiton gehaltenen Brief erhält, ist darin von nichts anderem die Rede als von Erpressung. Er möge von nun an ein monatliches Schutzgeld zahlen, auf dass sein Unternehmen auch weiterhin gedeihen könne. Was die Erpresser nicht ahnen konnten, ist das eiserne Befolgen des Vermächtnisses, das Felícitos Vater seinem Sohn als Lebensregel hinterlassen hat: "Lass dich nie von jemandem herumschubsen!" Bereit, im äußersten Fall nicht nur das eigene Leben, sondern auch das seiner Angehörigen zu riskieren, weicht Felícito keinen Millimeter von seiner Maxime ab. In gefährlicher Weise spitzen sich die Dinge zu.

In Perus Hauptstadt Lima spielen sich derweil weniger dramatische Szenen ab. Rigoberto, Generaldirektor einer großen Versicherung, der sich freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet hat, wird von seinem ehemaligen Chef und Eigner der Versicherung, der auch sein Freund ist, gebeten, als Trauzeuge für dessen bevorstehende Hochzeit zu fungieren. Das im Prinzip erfreuliche Ereignis hat erkennbare Tücken: Der verwitwete Bräutigam ist über 80 Jahre alt, die Braut einige Jahrzehnte jünger und seine Hausangestellte. Auf der erbschaftlichen Lauer liegen zwei missratene Söhne des Bräutigams, die sehr ungeduldig auf das Ableben ihres Erzeugers warten und entsprechend gegen die heimlich geschlossene Ehe vorgehen werden. Die Loyalität dem Freund gegenüber veranlasst Rigoberto, zuzustimmen. Sein ersehnter Ruhestand, in dem er sich seinen eigentlichen Leidenschaften, Kunst, Musik, Bildungsreisen durch Europa, widmen wollte, nimmt eine andere Wendung. Polizeiliche Vernehmungen, Gerichtstermine, selbst Ängste um Leib und Leben bestimmen bis auf Weiteres seinen Alltag.

Was beide Geschichten vereint, ist das unbedingte Festhalten an moralischen Werten seitens der Protagonisten, auch wenn deren Aufgabe zwischen Bedrohung und Verlockung jeweils eine Option wäre. Geht es in einem Fall um die Bewahrung der eigenen Würde gegen die Attacken krimineller Energien, stehen im anderen Fall persönliche Solidarität, Freundschaft, Integrität auf dem Spiel.

Mario Vargas Llosa erweist sich erneut als der souveräne, ja elegante Erzähler, der seine Leser mit unwiderstehlichem Sog in seinen Text zu ziehen vermag. Das funktioniert nicht nur, weil er schließlich diese beiden fernab gelegenen und im Wechsel vorangetriebenen Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen weiß, sondern auch, weil diese Erzählung ein Muster an Plastizität darstellt. Seien es die Konstellationen der Handlung, die Motivation der Figuren, die präzise, dabei nie ausufernde Beschreibung der Schauplätze oder die Nebenlinien der Handlung, die sich auftun. Wer ein Beispiel für ein geradezu perfektes Erzählen sucht, könnte zu diesem Buch greifen.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Mario Vargas Llosa: Ein diskreter Held
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 380 Seiten, 22,95 Euro