Monströse Muskelberge

19.08.2013
Schon um 1880 bestaunten 15.000 Schaulustige den Bizeps von Eugen Sandow in der Londoner Royal Albert Hall. Die Faszination die Kraftpakete ist bis heute geblieben. Mischa Kläber geht in seiner Sozialgeschichte "Moderner Muskelkult" diesem Phänomen zum Teil sehr theoretisch auf den Grund.
56 Zentimeter! Als Arnold Schwarzenegger der staunenden Welt in den 70er Jahren seinen Oberarmumfang präsentierte, war das eine ziemliche Sensation. Heute ist so ein Wert selbst auf regionalen Bodybuilding-Meisterschaften kein großes Ding mehr.

Was treibt Kraftsportler in Fitnessstudios, um mit eisenhartem Hanteltraining, Medikamenten und einer asketischen Lebensweise immer größere Muskelberge aufzubauen? Mischa Kläber ist dieser Frage in "Moderner Muskelkult" auf den Grund gegangen. Dazu zieht er von Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorien, über eine Vielzahl anderer - vor allem philosophischer und historischer - Quellen fast alles heran, was der akademische Markt zu diesem Thema hergibt. Heraus gekommen ist so eine sehr fundierte Analyse, die aber eben gerade wegen ihrer theoretischen Reichhaltigkeit und akademischen Tiefe für Uneingeweihte überwiegend schwer lesbar ist. Die interessierte Öffentlichkeit, für die das Buch auch gedacht war, bleibt leider außen vor.

Wer sich dennoch die Mühe macht, das Buch zu lesen, wird nicht enttäuscht: Nach einem sporthistorischen Exkurs, der bis in die kretisch-mykenische Epoche um 1600 v. Chr. zurückreicht, macht Mischa Kläber den Beginn des eigentlichen Bodybuildings an den Folgen der Industrialisierung fest. Im Maschinenzeitalter verliert der muskulöse Körper zunehmend seine Aufgabe als nützliches Arbeitswerkzeug. Allmählich wandelt sich seine Funktion zu einem Symbol für Ästhetik, Gesundheit und Identität. Wo Kläber die Etappen dieser Entwicklung erklärt, hat das Buch seine besten Seiten.

Pioniere dieser neuen Körperkultur sind Kraftmenschen wie Eugen Sandow. Um 1880 zog Sandow, der auf dem Zenit seiner Karriere den Ruf genoss, "stärkster Mensch der Welt" zu sein und bei seinen Auftritten die Londoner Royal Albert Hall mit ihren 15.000 Sitzplätzen mühelos füllte, mit kleineren Zirkussen und Schaustellern durchs Land, um seinen "phänomenalen Körperbau" zu präsentieren. Die Menschen bestaunten diesem unbesiegbaren Exoten, um ihrem eigenen körperlich harten Arbeitsalltag kurz zu entfliehen. Eugen Sandow, dessen "Kraftsportschulen" als Vorläufer der modernen Fitness-Studios gelten, beklagte schon damals die negativen Folgen einer immer stressiger und komplexer werdenden Arbeitswelt, die er mit Kraftsport bekämpfen wollte.

Heute gehen, so Mischa Kläbers These, viele Menschen in ein Fitnessstudio, um mit hartem Training den vergessenen Körper zurückzuholen. Im Jahr 2008 trainierten nach seinen Recherchen in Deutschland etwa sieben Millionen Menschen in 6500 Studios. Die wenigsten davon waren Bodybuilder. Aber sie sind nach Ansicht des Autors mit ihren monströsen Muskelbergen die Speerspitze einer fitnessorientierten Protestbewegung, die das "Sinnmotiv der harten körperlichen Arbeit" in den modernen bequemen Zeiten nur noch im Sport wiederfindet. Durch die enormen Anstrengungen "fühlt der Athlet seinen Körper wieder völlig ´neu`, den er zu anderen Zeiten des Alltags kaum noch bewusst wahrnimmt".


Besprochen von Thomas Jaedicke

Mischa Kläber: Moderner Muskelkult, Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings
Transcript Bielefeld, Bielefeld 2013
276 Seiten, 28,80 EUR