Monika Helfer: "Löwenherz"

Nur ein Roman fasst diesen rätselhaften Bruder

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Das Cover zeigt den Buchtitel und den Autorinnennamen sowie ein unscharfes Kindergesicht.
© Hanser

Monika Helfer

LöwenherzCarl Hanser, München 2022

191 Seiten

20,00 Euro

Von Rainer Moritz · 25.01.2022
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Die österreichische Bestsellerautorin Monika Helfer setzt ihre autobiografische Familiensaga fort. Diesmal im Mittelpunkt: ihr Bruder. Stabile menschliche Beziehungen sind ihm nicht vergönnt. Mit 30 Jahren begeht er Selbstmord.
Da veröffentlicht eine Autorin über Jahre hinweg Romane, erhält dafür verhaltene Resonanz und einige Preise, die meist auf ihre österreichische Heimat beschränkt bleiben. Und dann, als 73-Jährige, schreibt sie eine Familiengeschichte auf, deren „wahrer“ Kern mit Händen zu greifen ist. „Die Bagage“ hieß dieses 2020 erschienene Buch, das Monika Helfer breite Anerkennung eintrug und zugleich die Bestsellerlisten stürmte.

Helfers Großfamilie hat viele Eigenbrötler

Inspiriert von diesem Erfolg und von der Lust, ihre an Eigenbrötlern so reiche Großfamilie von allen Seiten zu beleuchten, legte Helfer 2021 den Roman „Vati“ vor, der sich ihrem in „Die Bagage“ zu kurz gekommenen Vater widmete und dem sie nun mit „Löwenherz“ ein Buch über ihren sechs Jahre jüngeren Bruder Richard folgen lässt.
Warum sie das tut, offenbart sie im Text selbst, gegenüber ihrem zweiten Mann, dem Schriftstellerkollegen Michael Köhlmeier: „Nachdem ich Bücher über meine Großmutter und meinen Vater geschrieben hatte, war ich eine Zeit lang sehr unruhig, da hat Michael zu mir gesagt, ich solle ein drittes Buch schreiben, nämlich das Buch über meinen Bruder.“

Erzählendes Herantasten an einen Eigenwilligen

So unverhohlen und scheinbar naiv reflektiert Helfer ihren Schreibimpuls. Von der Genrebezeichnung „Roman“ darf man sich dabei nicht in die Irre führen lassen: Es geht nicht um ein fiktionales Ausschmücken des Vergangenen, nein, es geht um ein langsames Herantasten an die Biografie des eigenwilligen Bruders.

Ihr Text sei auch ein Versuch zu verstehen, warum ihr Bruder Richard mit dem Leben gehadert habe, sagt Helfer . Eine Antwort darauf sei, dass er nach dem frühen Tod der Mutter als Pflegekind bei der Tante kaum Zärtlichkeit erfahren habe. Sie glaube fest daran, dass man nach einer komplizierten Kindheit nur Künstler werden könne.

Im Buch vermische sich Fiktion und Realität, doch manche Episoden, die viele für erfunden hielten, hätten sich tatsächlich so ereignet: Etwa wie ihr Bruder in einer Badewanne im Rhein treibt, stellt Helfer klar. Das „Romanhafte“ bezieht sich auf die Unsicherheit, über Richard wirklich Bescheid zu wissen, und so tritt der mit Richard eng verbundene Gatte Köhlmeier immer wieder auf den Plan und wird als Gegenleser des Geschriebenen eingespannt.

Ihren speziellen Schreibstil habe sie erst mit der Zeit entwickelt, sagt die Schriftstellerin. Aber die Sichtweise auf Dinge hätte sie schon als 20-Jährige gehabt – ihr jetziges Schreiben sei allerdings ausgefeilter.

Durch das Buch denke sie viel öfter und mit Freude an ihren verstorbenen Bruder, mit der Idee, dass er „von oben runterschaut und sagt: 'Hast du gut gemacht.'“

Ein leidenschaftlicher Nachahmer und Geschichtenerzähler

Dass Hundefreund Richard im Alter von 30 Jahren Selbstmord begehen wird, verrät der Text auf seinen ersten Seiten. Spannung erzeugt Monika Helfer auf andere Weise. Wer war dieser Mann, der sich als Schriftsetzer zur „Avantgarde der Arbeiterklasse“ rechnete, der Mitmenschen nur verstand, wenn er sie nachahmte, und der als rechter „Schmähtandler“ pausenlos nicht unbedingt glaubwürdige Geschichten auftischte? Darauf werden Antworten gesucht.
Frauen fühlen sich zu Richard, dem sein Vater einst den Kosenamen „Löwenherz“ gab, hingezogen, und Frauen greifen entscheidend in sein Leben ein. Zuerst ist es die junge, schwangere Kitti, die ihn vor dem Ertrinken im Bodensee rettet und kurzerhand ihr erstes Kind Putzi bei ihm „abstellt“. Dieses nimmt den liebevollen Richard sofort als „Papa“ an – ein Glück, das nur bis zu Kittis jäher Rückkehr währt.

Kein Liebesglück für ihn ist von Dauer

Hoffnung keimt auf, als sich die Wirtschaftsanwältin Tanja in Richard verliebt, ihn gar heiratet und mit juristischen Mitteln versucht, Kitti das Sorgerecht für Putzi abzuerkennen. Auch diese Verbindung hält nicht; Monika verliert ihren Bruder danach aus den Augen – bis sie die Nachricht von seinem Tod bekommt.
Monika Helfer bleibt auch in „Löwenherz“ ihrer erzählerischen Linie treu. Unprätentiös und mit einer Souveränität, zu der man wohl erst im (Schreib-)Alter gelangt, kreiert sie eine ungewöhnliche Form des sich dem Geschehenen behutsamen nähernden autobiografischen Schreibens und zeichnet ihren Bruder als widersprüchlichen, nicht leicht zu fassenden Außenseiter. Und vielleicht geht es ja bald weiter: Monika Helfers „Bagage“ umfasst noch mehrere Mitglieder, die es wert sein könnten, zu Romanfiguren zu werden.
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