Mongolei

Wie viel Tourismus verträgt der Hovsgol See?

Blick auf den Hovsgol-See in der nördlichen Mongolei.
Blick auf den Hovsgol-See in der nördlichen Mongolei. © Deutschlandradio / Philipp Eins
Von Philipp Eins · 19.10.2015
Der Hovsgol See in der nördlichen Mongolei gilt als einer der saubersten Seen der Welt. Bis vor kurzem war das schwer zugängliche Gebiet kaum besucht. Nun aber kommen immer mehr Gäste aus der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator und aus Sibirien.
Schwimmen im Hovsgol See, mitten im mongolisch-sibirischen Grenzgebiet – auf diese Idee können nur ausländische Touristen kommen. Auch wenn es an manchen Tagen im Sommer 30 Grad warm wird, das klare Wasser in dem Permafrostgebiet ist eisig kalt. Nur wenige Minuten halten es die Schwimmer darin aus. Die Einwohner der Ortschaft Hatgal würden hier keinen Fuß reinsetzen. Sie kommen nur an das von Lärchenwäldern, Gebirgszügen und Bergketten umgebene Ufer, um Trinkwasser abzufüllen. Der Ort ist ihnen heilig.
Der Hovsgol See liegt in der nördlichen Mongolei, inmitten des Hovsgol Nuur Nationalparks an der Grenze zu Russland. Mit einer Fläche von knapp 3000 Quadratkilometern ist er der zweitgrößte See der Mongolei, er speichert 70 Prozent des Trinkwassers des Landes. In der Zeit des Sozialismus war die anliegende Ortschaft Hatgal ein Industriestandort. Holzverarbeitung und Wolle waren die wichtigsten Wirtschaftszweige. Außerdem war Hatgal Importzentrum für Waren aus Russland. Das Leben in der Region änderte sich 1991 mit dem Niedergang des Sozialismus, sagt Nationalparkdirektor Davaabayar Luvsansharav:
"Während des Übergangs vom Sozialismus zur freien Marktwirtschaft ist die Bevölkerung Hatgals von 8000 auf 1000 Einwohner geschrumpft, weil die Wirtschaft zusammenbrach. Mit dem Ausbau des Nationalparks kamen aber zunehmend Touristen in die Region. Dadurch entstanden neue Arbeitsplätze. Inzwischen leben wieder 3000 Menschen in Hatgal."
Eine buddhistische Zeremonie in den nahegelegenen Wäldern. Gegen Mittag haben sich einige Männer auf einer Anhöhe mit Blick auf den Hovsgol See versammelt. Sie feiern Erntedankfest. Für die Dorfbewohner ist es einer der kulturellen Höhepunkte des Jahres. Ein buddhistischer Mönch mit rotem Umhang und orangener Kappe sitzt vor einem Tischchen unter freiem Himmel und betet.
Männer in farbenfrohen Gewändern knien auf einem Teppich, wiederholen den monotonen Sprechgesang. Hinter ihnen steht ein aus Holzstämmen errichteter Ovoo, der mit blauen Baumwolltüchern geschmückt ist. Das kegelförmige Gebilde ist nach mongolisch-buddhistischem Glauben Sitz der örtlichen Gottheiten. Es bringt Glück, einen Ovoo dreimal zu umrunden und dabei Reis, Käse und reichlich Wodka zu verschütten.
Ein buddhistischer Mönch auf einer Zeremonie vor derm Dorf Hatgal in der nördlichen Mongolei.
Ein buddhistischer Mönch auf einer Zeremonie vor derm Dorf Hatgal in der nördlichen Mongolei. © Deutschlandradio / Philipp Eins
Alte Bräuche kennenlernen, auf Pferden reiten, eine Kuh melken: Das traditionelle Leben von Anwohnern und Nomaden lockt Besucher aus der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator in den Nationalpark.
Die Regierung fördert den Ausbau des Tourismus. Vergangenes Jahr ließ sie eine neue Teerstraße von Ulan Bator bis nach Hatgal bauen. Statt zweieinhalb Tage braucht man für die rund 800 Kilometer lange Strecke nur noch zwölf Stunden mit dem Auto. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich die Zahl der Besucher verfünffacht. Rund 50.000 waren es 2014, davon etwa 7000 aus dem Ausland. Eigentlich eine verkraftbare Größe für ein weitläufiges Gebiet wie die Region um den Hovsgol See. Der Umweltaktivistin Unudelgerekh Batkhuu vom Mongol Ecology Center zufolge sind die lokalen Behörden jedoch mit dem rapiden Besucheranstieg überfordert:
"Der Hovsgol See zeichnet sich dadurch aus, dass er im Permafrostgebiet liegt. Wegen der Größe des Sees hat das Wasser zudem eine Verweilzeit von 500 Jahren – so lange wird das Wasser also durch Zu- und Abfluss nicht erneuert. Der steigende Zahl an Touristen und der unkontrollierte Bau von Unterkünften üben einen Einfluss auf dieses sensible Ökosystem aus. Denn im Nationalpark gibt es keine funktionierende Abwasser- und Müllentsorgung. Das ist eines der größten Umweltprobleme hier, neben der Verschmutzung durch Plastik und anderen Einflüssen."
Nationalparkdirektor Davabayaar sieht die steigenden Touristenzahlen grundsätzlich als Vorteil für die ländliche Bevölkerung. Immerhin seien die Einkommen in der Region gestiegen. Allerdings, räumt er ein, mache der zunehmende Müll seiner Verwaltung zu schaffen.
Müll- und Abwassersysteme fehlen
In der Hochsaison kommen schnell 150 LKW-Ladungen mit Abfällen in nur zwei Wochen zusammen. Bleibt Müll achtlos in der Natur liegen, baut er sich nur schwer ab: selbst im Sommer ist an manchen Uferstellen eine Eisschicht zu sehen, der Permafrostboden taut maximal zwei Meter tief auf. Würmer oder anderes Krabbeltier, das beim Kompostieren der Erde hilft, gibt es deshalb nur wenig.
"Die Touristen aus dem Inland lassen ihren Abfall meist dort, wo sie übernachtet haben. Ausländische Touristen bleiben in festen Camps. Dort aber fehlt ein funktionierendes Abwassersystem. Um das zu Installieren, bräuchte es von der Regierung größere Investitionen. Ob die kommen, ist völlig ungewiss. Selbst unsere Schutzverwaltung ist unterfinanziert: 85 Prozent des Budgets werden allein für die Gehälter und laufende Kosten wie die Heizung verwendet. Für die Ausrüstung und Ausbildung der Ranger bleibt kaum etwas übrig."Der Staat ist hoch verschuldet. Großprojekte zum Abbau von Kupfer, Gold, Kohle, Uran und Seltenen Erden stagnieren infolge politischer Instabilität und Rechtsunsicherheit. Umweltschäden durch den Rohstoffabbau werden im Land ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage, wer von den Erlösen profitieren soll.
Noch immer lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Deshalb will die Regierung in Ulan Bator die Touristenzahlen verdoppeln – ohne allerdings finanzielle Mittel dafür bereitstellen zu können. Nationalparkdirektor Davabayaar hält eine Verdoppelung der Touristenzahlen am Hovsgol See ohne weitere Investitionen aber für schwierig:
"Die meisten Gäste besuchen uns in der Hochsaison von Juni bis August. In dieser Zeit kommen die Camps schnell an ihre Grenzen. Wir haben momentan nur 34 Camps, die zusammen nur 1000 Gäste pro Tag aufnehmen können. Wenn die Regierung die Touristenzahlen nun verdoppeln möchte, wird das für unser Gebiet ungeheuer schwierig werden. Wo sollen die Menschen bleiben?
Wir erwarten von der Regierung, dass Verordnungen im Hovsgol Nationalpark besser eingehalten werden. Es gibt bereits wunderbare Öko-Standards – die aber niemand ernsthaft überprüft und durchsetzt! Es gibt zum Beispiel eine Verordnung, dass Zeltlager nicht näher als 200 Meter an den See herangebaut werden dürfen. Viele Camps liegen aber eindeutig näher als 100 Meter am Wasser. Die Ranger haben keine Befugnis, dagegen vorzugehen. Sie wären auch personell zu schlecht ausgestattet, um solche Öko-Standards ernsthaft zu kontrollieren."
Besuch bei einer nomadischen Familie, etwa 20 Kilometer von Hatgal entfernt. Familienvater Chuluunbaatar empfängt in seiner Jurte, die Betten der Familie dienen als Sitzgelegenheit. Der niedrige Holztisch in der Mitte der Jurte ist reich gedeckt, es gibt Hammelfleisch und Kartoffelsalat. Zur Begrüßung werden Milchtee und Käse gereicht. Chuluunbaatars Ehefrau Bayermaa nimmt Keramikteller und Essbesteck aus dem himmelblau lackierten Küchenschrank, der gleich neben der Fernsehkommode steht; Elektrizität gewinnt die Familie mithilfe eines Solarpanels.
Chuluunbaatar und seine Familie führen ein klassisches Nomadenleben. Vier- bis fünfmal im Jahr ziehen sie mit ihren Ziegen und Schafen um. Die Weideflächen sind zehn bis 30 Kilometer voneinander entfernt. In strengen, schneereichen Wintern finden die Tiere nicht genug Gras zum Fressen. Dann muss die Familie ihr Lager noch häufiger wechseln. Bis zu 100 Kilometer legt sie manchmal zurück.
"Wir leben vom Verkauf von Tierprodukten. Im Sommer verkaufen wir Milchprodukte, im Herbst Fleisch. Denn die Familien legen ihre Fleischvorräte immer im Herbst an, bevor der Winter kommt. Im Frühjahr verkaufen wir Kaschmir. In jeder Jahreszeit haben wir also eine andere Einkommensquelle."
Während die Tiere den Nomaden gehören, ist das Weideland grundsätzlich gemeinschaftliche Nutzfläche, auf der sich die Nomaden frei bewegen können. Dieses Leben möchte der 48-jährige Chuluunbaatar nicht aufgeben. Deshalb packen er und seine Familie Kleider und Geschirr zusammen und bereiten ihre Zelte auf den Abbau vor. In den kommenden Tagen wollen sie weiterziehen. Trotzdem ist für sie der Tourismus ein wichtiger Erwerbszweig geworden.
"Drei unserer Kinder studieren, vom Verkauf der Tierprodukte könnten wir ihre Ausbildung nicht finanzieren. Daher haben wir ein Jurtencamp errichtet, in dem wir die Touristen aufnehmen. Sie können bei uns die nomadische Lebensweise kennenlernen. Viele Gäste kommen aus Ulan Baator, aber auch aus dem Ausland: den USA und England, Japan und Israel."
Wegen Klimaveränderungen und steigender Haltung von Kaschmirziegen sind die Grasflächen zunehmend überweidet. Viele Nomaden ziehen sich auch deswegen aus dem traditionellen Leben zurück. So wie Kehischgee Khuhti. Die 41-Jährige lebt seit zwei Jahren ausschließlich vom Tourismus.
"Es war schwierig, unser traditionelles Leben weiterzuführen. Wegen der niedrigen Milchpreise konnten meine Familie und ich vom Verkauf der Tierprodukte allein nicht mehr überleben. Deshalb bin ich froh, dass immer mehr Gäste in die Region kommen. Wir können mit dem Tourismus besser Geld verdienen."
Viehzucht bietet keine Sicherheit mehr
Früher hatten sie und ihre Familie eine Herde mit Rindern, Ziegen und Schafen, erzählt Kehischgee. Durch einen Zud, eine anhaltende Kältewelle mit vielen Schneefällen, seien jedoch viele Tiere gestorben. Der Zud habe sie gelehrt, dass nomadisches Leben keine Sicherheit bietet.
"Unser Leben hat sich komplett geändert, seit wir in den Tourismus eingestiegen sind. Wir sind in Hatgal sesshaft geworden. Im Winter leben wir im Ort, nur im Sommer ziehen wir noch raus und nehmen Gäste in unserem Camp auf. Auf Wanderung mit dem Vieh gehen wir nicht mehr."
Ankunft in einem Camp bei Ulaan-Uul, etwa 180 Kilometer westlich vom Hovsgol See. Der Weg in die 3000 Einwohner große Siedlung führt über eine Schotterpiste, vorbei an Lärchenwäldern, Gletschern und weitläufigen, trockenen Weideflächen. Sechs Stunden dauert die mühsame Fahrt mit dem Jeep. Die Ranger und ihre Frauen treffen sich abends im Camp, wärmen sich am Feuer und singen Lieder.
Sie handeln von der Natur, der Liebe und – wie in der Mongolei üblich – von Pferden. Auf dem Feuer steht ein Bottich, der an einen großen Milchkessel erinnert. Alles ist vorbereitet für das traditionelle Abendessen: das Chorchog. Hammelfleisch, Gemüse, Wasser und Salz werden mit heißen Steinen in den Topf gegeben und 45 Minuten lang gegart.
Nachdem die Taiga um Ulaan-Uul 2012 zum Landschaftsschutzgebiet erklärt wurde, kamen die ersten Touristen in die Region. Nur 800 bis 1000 Gäste jährlich sind es bislang. Vorher waren in den Bergen illegale Goldgräber aktiv, sogenannte Ninjas. Die Bezeichnung haben die Goldwäscher wegen der Plastikschüsseln erhalten, die, auf dem Rücken getragen, an die Schildkrötenpanzer der Ninja-Turtle-Spielfiguren erinnern. Einer der ehemaligen Ninjas ist der heutige Ranger Dalaibayar. Der 53-Jährige lebte vier Jahre lang in den Bergen. In der Zeit schürfte er 1,5 Kilo Gold, mit dem er seine Schulden bei der Bank bezahlen wollte:
"Wir waren zwischen 7000 und 8000 Ninjas in der Region. Die Goldminen waren für Autos unzugänglich, man konnte sie nur mit Pferden oder zu Fuß erreichen. Weit abgelegen von den Siedlungen galt dort kein Gesetz. Es herrschten chaotische Zustände. Ich habe alle Formen menschlicher Abgründe gesehen."
Tag und Nacht habe er gearbeitet, erinnert sich Dalaibayar. Die Aussicht auf Gold machte ihn blind, Freunde und Verwandte zählten nichts mehr. Er raubte, hinterging seine Frau mit Prostituierten, die sich in den Bergen verdingten. Es sei ein Wunder, dass er überlebt hat:
"Ich habe von 30 bis 40 Todesfällen mitbekommen. Einige der Goldgräber sind ertrunken, andere kamen in ihren Hütten bei Bränden ums Leben. Andere wiederum wurden vermutlich für Gold ermordet. Die wahren Gründe für ihren Tod wurden nie aufgedeckt. Es gab keine Polizei, die ermitteln und die Täter bestrafen konnte."
Fast alle Einwohner von Ulaan-Uul waren am illegalen Geschäft mit dem Gold beteiligt. Durch einen Zud, eine Kältewelle, haben viele Tiere den harten Winter 2007 nicht überlebt. Die meisten Anwohner mussten Kredite aufnehmen, um zu überleben. Die Arbeiter überstanden den Winter unter härtesten Bedingungen:
"Die Einheimischen hatten eigene Jurten und Hütten, in denen man in der Kälte einigermaßen gut überleben kann. Einige Ninjas aber hatten nichts – nur eine Plastikplane, mit der sie ihren Kopf bedeckt haben. Es ist für Sie vielleicht unvorstellbar, aber viele Menschen haben so auf dem Eis geschlafen – bei Temperaturen unter Minus 40 Grad."
Ninjas gibt es in der Gegend um Ulaan-Uul heute nicht mehr. Nachdem die Ranger ihre Minen verschüttet und Wohnanlagen zerstört haben, sind die meisten geflohen. Dalaibayar ist der einzige Ninja, der heute als Ranger arbeitet. So möchte er der Natur zurückgeben, was er von ihr genommen hat.

Recherchen für diesen Beitrag wurden unter anderem durch eine Reisekostenbeteiligung des Global Nature Fund (GNF) ermöglicht.

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