Momente der Einsamkeit

Eine verschworene Gruppe von Gestrandeten macht engagiertes Radio in einem kanadischen Kaff: Aus dieser Idee gewinnt Elizabeth Hays Roman den Stoff für eine Geschichte über Träume und Rückschläge.
Wohnen möchte man da nicht. Dort oben in einer wenig spektakulären Gegend im Norden Kanadas, in der unattraktiven Kleinstadt Yellowknife. Hier spielt Elizabeth Hays dritter, mit dem renommierten kanadischen Giller Prize ausgezeichneter Roman. Wer von großer Karriere träumt, ist in Yellowknife fehl am Platz, und so hat Harry Boyd schwer daran zu kauen, als er – Mitte der Siebzigerjahre – dorthin zurückkehrt, als Interimschef einer kleinen Radiostation. Obschon erst Anfang vierzig, scheint Harry, ein "Mann mit einem fast vergessenen Ruf der Genialität", den Zenit seines beruflichen Lebens bereits überschritten zu haben. Nach seinem Scheitern beim Fernsehen in Toronto sucht er Unterschlupf beim Rundfunk.

Die 1951 geborene Elizabeth Hay, die selbst zehn Jahre beim Radio arbeitete, entwirft mit wenigen gekonnten Erzählstrichen das Bild eines verschworenen Radioteams, das sich gegen das sich auch in Yellowknife ausbreitende Fernsehen behaupten will. Da ist die schöne, rätselhafte Dido, deren Stimme Harry sofort in Bann zieht; da ist der alternde, verschrobene Literaturkritiker Ralph, und da ist die junge Gwen, die mit einem alten Volvo mehr als 5000 Kilometer zurücklegt, um ausgerechnet in Yellowknife eine erste Anstellung als Sprecherin zu finden.

"Nachtradio" erzählt auf elegant altmodische Weise von Träumen und Rückschlägen, von Beziehungsgeflechten und Desastern. Ein knappes Dutzend Menschen bevölkert den Roman, und alle sehnen sich danach, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Affären beginnen; Liebeswünsche werden erhört oder ignoriert, bis das Geflecht der Personen durcheinandergewirbelt wird, als sich die von allen bestaunte Dido eigentümlicherweise mit dem undurchschaubaren Tontechniker Eddy auf und davon macht.

Wie diese gestrandeten, mit sich und der Welt kämpfenden Figuren versuchen zurechtzukommen, davon handelt dieser sprachlich schnörkellose, von seinen genauen Beobachtungen lebende Roman. Gleichzeitig ist er eine Hommage an das "alte" Radio, das, so die Macher, in seinen besten Momenten zur "Poesie" werde, während das Fernsehen nicht mehr als "Unterhaltungsromane" biete.

Doch die Zeiten ändern sich nicht nur in der Medienwelt. Der kanadische Norden wird bedroht durch den geplanten Bau einer Erdgaspipeline, die die "Arktis durchschneiden würde wie eine Rasierklinge das Gesicht der Mona Lisa". "Nachtradio" hält den Kampf derjenigen fest, die sich gegen die Pipeline und damit verbundene Umsiedlungsprojekte wenden. Der Roman beschreibt ein von der modernen Technologie bedrohtes Lebensgefühl, für das es selbst im Norden Kanadas kaum noch Platz zu geben scheint.

Dessen Schönheit wird in besonders eindringlichen Passagen beschworen – als sich vier der Akteure auf die Spur des Entdeckers John Hornby begeben und mit Kanus in die Barren Grounds aufbrechen. Die suggestiven Naturschilderungen spiegeln Momente der Einsamkeit wider, die Einsamkeit einer menschenleeren Landschaft. Den gelegentlichen Rückzug dahin hat Elizabeth Hay in einem Interview als "menschliches Bedürfnis" bezeichnet, "jedenfalls für Menschen, die in Kanada aufgewachsen sind".

Besprochen von Rainer Moritz

Elizabeth Hay: Nachtradio. Roman
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2010
424 Seiten, 24,90 Euro