Molecular Farming

Die Pflanze als Biofabrik in Krisenzeiten

07:46 Minuten
Ein Forscher beugt sich über besonders grün leuchtende Pflanzen.
Nicotiana Benthamiana im Schwarzlicht, hier in einer Aufnahme aus den USA. Die Pflanze eignet sich ganz besonders für Molecular Farming. © imago/ZUMA Wire/Chris Crewell
Von Nadine Querfurth · 17.12.2020
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Insulin gewinnt man aus Bakterien, bestimmte Antikörper aus tierischen Zellen. Kommen auch Pflanzen für solche Verfahren infrage? "Molecular Farming" nennt sich die gerade in der Corona-Pandemie vielversprechende Alternative.
Auf Metallschienen bewegt sich ein Roboterarm und greift Töpfe, in denen Pflanzen gewachsen sind. Ein Sägeblatt beginnt zu rotieren und schneidet große, grüne Blätter ab. Erntezeit.
Der Roboter erntet Blätter der australischen Wüstenpflanze Nicotiana Benthamiana, einer Verwandten des Tabaks. Forscher haben die Pflanzen genetisch so verändert, dass sie ein gewünschtes Protein herstellen. Das kann ein pharmazeutischer Wirkstoff, ein diagnostisches Produkt, ein Impfstoff oder Antikörper sein.

Erfindungsreiche Bakterien

"Molecular Farming" heißt diese Technologie. Sie macht sich natürliche Mechanismen und Werkzeuge des Bodenbakteriums Agrobakterium tumefaciens zunutze, sagt Holger Spiegel, Pflanzenmolekularbiologie am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie (IME):
"Die Erfinder des Molecular Farming sind nicht die Wissenschaftler gewesen, sondern die Agrobakterien. Diese Bakterien haben ein System entwickelt, das es ihnen ermöglicht, eigene Genfragmente in Pflanzen zu übertragen. Das Ziel ist dabei, die Pflanze dazu zu zwingen, solche komplizierten Moleküle herzustellen. Die genetischen Elemente, die das Bakterium dafür nutzt, sind von Wissenschaftlern entschlüsselt worden."
Dann kommt eine technische Anlage mit mehreren vertikalen Ebenen zum Einsatz - eine "Vertical Farming"-Anlage, die am Fraunhofer IME gebaut wurde.
"Das fängt mit einem Aussaatroboter an. Dann gibt es eine große Anlage, die mit automatischer Belichtung und Bewässerung arbeitet, die Pflanzen in verschiedenen Stockwerken umlagert. Auch die Prozedur, wie wir die Agrobakterien in die Pflanze bringen und danach inkubieren, bevor das Proteine geerntet wird, ist fast vollständig automatisiert."

Ein Verfahren für Antikörper-Tests

Anfang des Jahres – mit Beginn der Corona-Pandemie – bot sich dem IME in Aachen die Gelegenheit zu beweisen, was ihre "Vertical Farming"-Anlage kann. Die Nachfrage nach Antikörper-Tests war zu Beginn der Pandemie enorm. Solche Tests prüfen, wer die Corona-Infektion bereits durchgemacht und Antikörper gebildet hat.
Dafür werden große Mengen abgeschwächter Viruspartikel benötigt. Herkömmliche Produktionsplattformen mit tierischen Zellen, die auch solche Virus-Antigene herstellen können, waren ausgelastet.
Die "Vertical Farming"-Anlage stand bereit für die Produktion. Holger Spiegel und seine Kollegen reagierten schnell. Sie wählten das Spike-Protein – ein Virus-Hüllprotein – als Antigen aus, konstruierten die gentechnisch modifizierten Agrobakterien, die den Tabakpflanzen den Bauplan des Antigens zur Verfügung stellten. Dann erledigten die Pflanzen ihren Job. Molecular Farming in großem Maßstab.
"Nach weniger als drei Monaten hatten wir mit der Anlage, die 50 kg Blattmasse pro Woche herstellen kann, 5mg Oberflächenprotein des Virus hergestellt, die dann in Diagnostika verwendet werden könnten. Das reicht aus für viele tausend Essays, die man durchführen könnte, um zu testen, ob Menschen die Infektion schon durchgemacht haben. Damit haben wir zeigen können, was in sehr kurzer Zeit mit so einer Anlage machbar ist."
Einmal etabliert, ließe sich durch diese Produktionsplattform in Pflanzen Nachschub der gewünschten Substanz binnen weniger Wochen generieren.

Durchsetzen konnte sich das Verfahren bislang nicht

Seit über 20 Jahren werden durch Molecular Farming Proteine als Wirkstoffe, Medikamente oder diagnostische Moleküle hergestellt. Meilensteine waren zum Beispiel ein Antikörper-Cocktail gegen das Ebola-Virus oder HIV-Antikörper aus Tabakpflanzen.
Etablieren konnte sich die Technologie bisher allerdings nicht. Nur in den USA ist ein Medikament für die Anwendung im Menschen zugelassen: ein Enzym-Ersatzstoff, der in Karottenzellen entsteht und bei einer seltenen Erbkrankheit den Mangel eines bestimmten Enzyms im Fettstoffwechsel ausgleicht.
Obwohl Molecular Farming schneller und kostengünstiger ist, werden Wirkstoffe, Antikörper und Impfstoffe weiterhin in Bakterien oder tierischen Zellen hergestellt. Das liegt zum einen daran, dass Produkte, die im Menschen angewendet werden sollen, GMP-zertifiziert sein müssen, ihre Herstellung also bestimmten Richtlinien zur Qualitätssicherung entsprechen, sagt Holger Spiegel:
"Die Behörden müssen auf alle Prozessschritte draufschauen. Man muss zeigen, dass sie sicher und reproduzierbar sind. Für die etablierten Systeme, die es in Bakterien und tierischen Zellen gibt, ist das alles durchexerziert worden. Das funktioniert schnell und man kann einen vorgegebenen Weg einschlagen.
Für die verschiedenen Pflanzensysteme existiert so etwas noch nicht, weil erst mal eine Anfangsinvestition getätigt werden muss, um diese GMP Zertifizierung zu erreichen. Das ist im Moment noch ein Punkt, wo viele Molecular-Farming-Projekte aufhören, weil man dann erkennt, dass dafür kein Geld oder keine Zeit da ist oder beides."

Molecular Farming reagiert schnell

Potential hat Molecular Farming Fachleuten zufolge dennoch. In Krisen etwa, wie der gegenwärtigen Corona-Pandemie:
"Molecular Farming kann in so einer Krisensituation beitragen, wenn wir ganz schnell größere Mengen Proteine herstellen müssen, womöglich auch für die Diagnostik, die nicht unter GMP Standards hergestellt werden müssen. Also dort, wo schnell reagiert werden muss. Da sind die Pflanzen eindeutig im Vorteil gegenüber den tierischen Zellen, weil wir keine komplizierte Medien brauchen, sondern die Pflanzen wachsen auf dem Wasser mit ein bisschen mineralischem Dünger und mit Licht."

Samen sind Langzeitspeicher

Und – noch zwei weitere Merkmale haben Pflanzen in ihrer Entwicklungsgeschichte ausgeprägt, die große Möglichkeiten für Molecular Farming bieten: Samen und Speicherorgane. Pflanzen lassen sich so umprogrammieren, dass sie maßgeschneiderte Proteine, Wirkstoffe oder auch Impfstoffe in Samen produzieren könnten.
"Der Vorteil an Samen ist ja, dass sie fürs Überdauern gemacht sind", erklärt Inge Broer, bis zu ihrem Ruhestand Leiterin der Professur Agrobiotechnologie an der Universität Rostock. "So können wir Samen ohne besondere Kühlung und ohne besondere Trocknung lagern und die darin befindlichen Proteine sind durch die Samenhülle geschützt."
Solche Ansätze sind vor allem für Regionen denkbar, die logistisch schwierig erreichbar sind und für die Herstellung über keine eigenen Plattformen verfügen.
"Man könnte jetzt direkt an der Pflanze die Samen ernten und weglegen und man kann sie auch fünf Jahre liegen lassen und später den Impfstoff da rausholen. Das können sie mit keinem anderen System. Es ist auch noch sehr sauber, denn innerhalb des Samens ist es ja steril, insofern ist es ein sehr einfaches, gesundes und hygienisches System."

Hoffnung auf den Durchbruch

Bis sich Molecular Farming aber als Alternative zu herkömmlichen Technologien etablieren kann, bedarf es noch einer Menge Investitionen, sagt Holger Spiegel vom IME:
"Damit die Systeme dann auch fit sind, dass mehr Anlagen in Deutschland stehen, mit denen solche Dinge gemacht werden können. Jetzt ist gerade wieder ein Phase, dass ich glaube, dass man den Durchbruch bald schaffen kann und wir Molecular-Farming-Produkte häufiger sehen werden als in der Vergangenheit."
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