Rumänien – nicht unbedingt der reichste Staat in der EU – hat jetzt ein 100-Millionen-Euro-Paket bereitgestellt, um Moldau EU-fit zu machen. Und auf der Liste der elf Berater, die die EU in die Moldau entsandt hat, sind vier aus Rumänien. Zwar hat Rumänien selbst viele Aufgaben bis heute nicht erfüllt – gerade was die Reform des Rechtsstaates betrifft –, aber daraus kann die Moldau lernen und vielleicht einige falsche Richtungen, die Rumänien gegangen ist, vermeiden.
EU-Beitrittskandidat Moldau
Gespaltenes Land: Der Stefan Cel Mare Boulevard mit Triumphbogen und Regierungssitz in Chisinau, der Hauptstadt von Moldau. © IMAGO/SKATA
Nicht alle streben nach Europa
26:02 Minuten
Die Republik Moldau ist gerade als EU-Beitrittskandidat anerkannt worden, was nicht alle im Land erfreut. 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung sind Putin gegenüber loyal. Ein Riss geht durch die Gesellschaft - auch durch die moldauisch-orthodoxe Kirche.
Liturgischer Gesang ertönt aus den Lautsprechern rund um die Kathedrale der Geburt des Herrn. Der prächtige hellgelbe Kirchenbau steht im Herzen von Moldaus Hauptstadt Chisinau. Das Gotteshaus ist der Hauptsitz der moldauisch-orthodoxen Kirche. Sie untersteht dem Moskauer Patriarchat. Die Republik Moldau, manche sagen auch Moldawien, ist ein gespaltenes Land. Risse gehen durch die ganze Gesellschaft, also auch durch die Kirche.
Moldau liegt zwischen Rumänien und der Ukraine. Viele Fragen, die die Gläubigen derzeit bewegen, haben wegen des Krieges deshalb auch mit Politik zu tun.
In der Fernsehsendung „Das Wort des Priesters“ im moldauischen Sender „Drochia TV“ melden sich Anrufer, um live mit einem Geistlichen zu sprechen. Warum der Moskauer Patriarch Kirill, dem auch die moldauische Kirche untersteht, den Krieg rechtfertige, möchte ein Zuschauer wissen. Das, was jetzt stattfinde, so weist der Priester ihn zurecht, sei kein Krieg, sondern der wahre Krieg habe geherrscht, als diese Paraden stattgefunden hätten. Priester Ioan Grigorasch spielt an auf Umzüge von Homosexuellen und erklärt, dass diese schlimmer seien als ein Krieg. Der Krieg in der Ukraine habe wegen der gottlosen Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten begonnen. Ioan Grigorasch ist einer von mehreren moldauischen Priestern, die die pro-russische Propaganda samt ihrem offenen Antiamerikanismus übernehmen.
„Wir sehen, dass die Zerstörung der Sowjetunion von den USA verursacht wurde. Als Amerika acht Jahre lang im Donbass so viel Blut vergossen hat, haben wir das nicht gesehen. Der Krieg ist wegen der Sünde.“
Predigten erinnern an politische Reden
Lilia Zaharia, eine junge Journalistin, geht bei dem unabhängigen Internetportal "stopfalse!" Falschmeldungen nach. Vor einiger Zeit schon ist sie auf den moldauischen Priester aufmerksam geworden, weit vor der Sendung mit Zuschauerbeteiligung. Wenn der Priester in seiner Dorf-Kirche in Cotova spricht, erinnert das eher an politische Reden denn an Predigten, sagt die Internet-Journalistin von "stopfalse!". Und in Moldau gebe es mehrere solcher Kirchenvertreter.
„Während der Pandemie verbreiteten die Priester Verschwörungstheorien wie die über Bill Gates und jetzt im Krieg vertreten sie die Kreml-Narrative über die NATO. Nicht alle, aber einige geben das wieder, was auch Patriarch Kyrill von sich gibt.“
Die russischsprachige Minderheit in Moldau wird auf 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung geschätzt. Viele schauen ausschließlich russisches, und das heißt Kreml-treues Fernsehen. Viele einheimischen Kanäle sind ebenso Putin loyal, denn die meisten gehören der sozialistischen Partei, sagt die Medienjournalistin Lilia Zaharia.
Hasspredigten gegen liberale Demokratien
„Die Kirchen und Priester werden von Politikern eingespannt. Unter anderem von Wladimir Plahotniuk, einem Oligarchen, und auch von dem Sozialisten Igor Dodon. Er war Maia Sandus Vorgänger im Präsidentenamt. Plahotniuk und Dodon nutzten die Kirche und ihre Priester in ihren Wahlkämpfen. Die Kirchen sollten Wahlempfehlungen für sie und ihre Parteien aussprechen. Wenn die Priester das taten, bekamen sie Geld von der Sozialistischen Partei bzw. von Bürgermeistern, die der Sozialistischen Partei angehörten, und sie ließen den Kirchen öffentliche Gelder zukommen.“
Der Priester Ioan Grigorasch, der heute wie Patriarch Kirill den Krieg gegen die Ukraine mit der Verteidigung angeblich konservativer Werte rechtfertigt, ist für seine Hassreden gegen liberale Demokraten bekannt. Besonders hat er es auf Maia Sandu abgesehen, die 2016 erstmals bei der moldauischen Präsidentschaftswahl kandidierte. Maia Sandu war noch recht neu in der Politik, trat aber als Bildungsministerin schon vielen auf die Füße, weil sie der Korruption in den Schulen rigoros den Kampf ansagte.
„Betrug bei Abiturprüfungen war fast ein Volkssport. Die Leute bezahlten, um gute Noten zu bekommen. Beteiligt an diesem Korruptionsring waren Eltern, Lehrer, Schüler und sogar Leute aus unserem Ministerium. Wir haben das sofort gestoppt, und zwar hart. Das Ergebnis war ein nationales Drama, ein Sturm. Das Parlament wollte mich entlassen. Warum? Weil die Rate der Schüler, die die Abiturprüfungen bestanden haben, von 95 auf 59 Prozent sank. Wir wussten, dass das richtig war, denn ohne gute Ausbildung hat ein Land keine Zukunft. Die Resultate müssen erarbeitet, nicht gekauft werden. Andernfalls müssen Schüler daraus schlussfolgern, dass sie schon in der Schule lernen, wie Korruption funktioniert.“
Kampf gegen Korruption in den Schulen
Die heutige Präsidentin war sowohl bei Klerikern wie bei ihren sozialistischen Konkurrenten verhasst. Bevor sie in die Regierung eintrat, hatte sie bei der Weltbank gearbeitet – nach ihrem Management- und Verwaltungsstudium in Moldau und an der Harvard Kennedy School in Washington. Genau an dem Tag Ende Mai, als sie dort vor Absolventen spricht, protestiert vor ihrem Amtssitz in Chisinau eine Menge gegen die Verhaftung ihres Vorgängers Igor Dodon. Dem Ex-Präsidenten droht ein Korruptionsverfahren. Er ist einer von vielen Politikern, die seit Jahren unsauberer Machenschaften verdächtigt werden.
„Die Korruption betraf nicht nur das Bildungswesen. Zur gleichen Zeit fand ein Betrug im Bankensektor statt. Er hatte das erstaunliche Ausmaß von zwölf Prozent des Bruttosozialproduktes und beteiligt waren mehrere Regierungsinstitutionen. Das Land kochte vor Wut.“
Eine unverheiratete Frau als Staatsoberhaupt, dazu resolut und prowestlich eingestellt, überfordert viele, meint Petru Marcovei, der Vorsitzende der Journalisten-Assoziation.
„Viele Leute sind daran gewöhnt, Russland zu glauben, und somit sind sie sehr anfällig für diese Propaganda. Außerdem ist Moldau eine sehr patriarchale Gesellschaft, sehr wenige Menschen stellen Dinge kritisch in Frage. Und sie werden auch jetzt noch kaum dazu angehalten in den Schulen, Universitäten und Familien.“
Prorussische Minderheit der Gagausien
Anderthalb Stunden braucht man mit dem Auto von der Hauptstadt Chisinau bis nach Gagausien im Süden von Moldau. Eine arme Gegend, wie am Angebot der Straßenhändler in Comrat abzulesen ist. Die Regionalhauptstadt und viele Orte rundherum wirken desolat. Die Gagauiser sind ein Turkvolk, das Anfang der 1990er-Jahre wie das von Russland besetzte Gebiet Transnistrien um seinen Autonomie gerungen, und sie im Unterschied zu Transnistrien auch bekommen hat.
Gesprochen wird ausnahmslos Russisch. Von der Eigenheit der gagausischen Nationalität ist nichts zu spüren. Das bestätigt auch Aleksandr Tarnavski, der Vize-Parlamentspräsident in seinem Abgeordnetenbüro auf der Leninstraße mit dem Lenindenkmal davor.
„Wir haben 58 Kindergärten, aber in keinem einzigen wird unsere Nationalsprache Gagausisch gesprochen, in allen spricht man ausschließlich Russisch. In 42 von 45 Schulen findet der Unterricht auf Russisch statt. Wir pflegen hier die russische Kultur und Sprache. Die Kinder wachsen mit Puschkin auf, diese Region gehört vollständig zur russischen Welt.“
Über die Russifizierung sind die eigenen Wurzeln des Turkvolkes der Gagausier fast vollständig verloren gegangen. Seit Jahrzehnten siegt bei Wahlen in Gagausien stets die prorussische Partei der Sozialisten. Auch bei der Präsidentschaftswahl 2021. Während die prowestliche Kandidatin Maia Sandu im Landesdurchschnitt mit 58 Prozent gewann, bekam sie in Gagausien nur fünf. 95 Prozent hatten dem sozialistischen Kandidaten Igor Dodon ihre Stimme gegeben.
Wegen ihrer Moskaufreundlichkeit gelten die Gagausier vielen in der Republik Moldau als unsichere Kantonisten, die russische Soldaten vielleicht tatsächlich mit Brot und Salz begrüßen würden, anders als die Ukrainer dies taten. Auch der Politologe Mihail Sirkeli hält das für möglich.
„Entweder sind sie nützliche Idioten oder sie tun das für Geld, wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Sie bekommen Geld und glauben wahrscheinlich wirklich daran, dass Moldau an der Seite Russlands stehen sollte.“
In Gagausien kaum russlandkritische Töne
Mihail Sirkeli ist selbst in Gagausien geboren und aufgewachsen, doch anders als die allermeisten in der Region informiert er sich nicht in den russischen Staatsmedien, sondern versucht im Gegenteil, ihnen als Journalist seinen eigenen Internet-Kanal entgegenzusetzen. Ein mühsames Unterfangen, denn das, was er dort sagt, möchten die wenigsten hören.
„Wenn man hier in Gagausien seine Kindheit verbracht hat, wird man bis zu seinem Erwachsenenalter kein einziges Mal erleben, dass sich jemand in den Bildungseinrichtungen, in der Zivilgesellschaft oder Politik proeuropäisch äußert. Und umgekehrt wird man es nicht erleben, dass jemand mal kritisch auf Russland schaut.“
Alexandr Tarnavski, der als Vize-Parlamentspräsident schon die dritte Wahlperiode absolviert, gehört zu denen, die sich weder proeuropäisch noch russlandkritisch äußern. Er findet Fragen nach Moskaus Angriffskrieg sichtlich unangenehm.
„Ich gebe Ihnen das Interview nicht als Privatperson, sondern als gewählter Politiker. Die Mehrheit der Menschen hier denkt, dass Russland richtig handelt. Weil sie die Ukraine tatsächlich von Nationalisten befreit. Wir können das nicht beurteilen, weil wir nicht oft in der Ukraine sind. Ich bin von der Nationalität Ukrainer, aber ich bin hier geboren und aufgewachsen. Und die Informationen gehen ja weit auseinander, die einen sagen, dass Russlands Aktion gerechtfertigt ist, die anderen sprechen von einer Aggression.“
Odessa ist keine 100 Kilometer entfernt
Von Comrat bis in die ukrainische Hafenstadt Odessa, die seit Wochen von russischen Raketen angegriffen wird, fährt man keine 100 Kilometer. Für den prowestlichen Politologen Mihail Sirkeli, ist es ausgemachte Sache, dass Moldau einem russischen Einmarsch nicht entgegentreten würde.
„Wir sind militärisch solange in Sicherheit, solange Putin nicht Odessa besetzt. Sobald Odessa gefallen ist, wird der Weg nach Transnistrien eröffnet und er wird unser Land besetzen. Daran gibt es keinen Zweifel. Entweder er setzt eine Marionettenregierung ein oder aber er schickt seine Truppen als Besatzer. Er spricht nicht eigens über Moldau, weil das viel zu klein ist, das gehört zum Paket einfach mit dazu.“
Wieder zurück in der Hauptstadt bestätigt dort Vizepremier Oleg Serebrian, dass Moldau von einer Mobilmachung im Moment weit entfernt ist.
„Im Moment spricht niemand davon. Die Kriegsangst und Nervosität war Anfang März viel größer als jetzt.“
Doch die Sorge, dass die russischsprachige Minderheit der Republik Moldau in den Rücken fallen, und eventuell gemeinsame Sache mit den Okkupanten machen könnte, möchte Mihail Popsoi nicht übertreiben. Der Vizepräsident des Parlaments relativiert das Sicherheitsrisiko, das von den Russischsprachigen ausgeht.
„Vor einigen Monaten forderte die russische Botschaft in Moldau die russischsprachige Minderheit in Moldau auf, von Diskriminierung zu berichten. Die Kommentare fielen alle ähnlich aus. Vielen Dank, aber wir brauchen keinen Schutz, wie die russischsprachigen Ukrainer in Charkiw, Mariupol usw. Wir brauchen keine Rettung, uns geht es gut in Moldau.“
Annäherung zwischen Moldau und Transnistrien
Anders Transnistrien. Der seit 30 Jahren russisch besetzte Landstreifen war stets ein Stachel im Fleisch. Viele Moldauer befürchten, dass Moskau es als Aufmarschgebiet nutzen könnte, ähnlich wie Belarus. Tatsächlich aber vollzieht sich eine erstaunliche, fast unbemerkte Annäherung an Moldau, zu dem Transnistrien völkerrechtlich sowieso noch gehört.
Denn Transnistrien ist in Not geraten. Die Grenze zur Ukraine ist seit Kriegsbeginn geschlossen und damit sind lebenswichtige Lieferrouten gekappt. Jetzt hilft Moldau. Nahrungsmittel, Medikamente und Benzin dürfen über moldauisches Territorium in das russlandfreundliche Gebiet gebracht werden, sagt der 33-jährige Popsoi, der der von Maia Sandu gegründeten Partei Aktion und Solidarität angehört.
„Transnistrien ist im Moment vollkommen auf Moldau angewiesen, über unser Gebiet laufen alle lebenswichtigen Lieferungen. Wir erlauben das. Nicht nur, weil das unsere Staatsbürger sind, sondern auch, weil wir keine weitere Eskalation oder eine humanitäre Krise gebrauchen können. Die Krise bringt es mit sich, dass Transnistrien jetzt mehr mit Moldau verbunden ist als je zuvor.“
Auch Moldaus Vizepremierminister für Reintegration, Oleg Serebrian, bestätigt die neue Annäherung.
„Seit dem 24. Februar gibt es einen lebhaften Dialog mit Transnistrien. Solche engen Verbindungen wie jetzt gab es zwischen uns noch nie.“
Jahrzehntelang haben Auseinandersetzungen das Verhältnis zwischen Moldau und Transnistrien bestimmt, wo nach wie vor 1500 russische Soldaten stationiert sind. Der Krieg im Nachbarland erhöht die Anspannung, aber auch die Vorsicht, denn die Gefahr, hineingezogen zu werden, ist real.