Mörderische Raumordnung

23.01.2013
"Volk ohne Raum" - das war das Schlagwort der Nationalsozialisten für ihre mörderische Eroberungspolitik. Woher das Denken in völkischen "Lebensräumen" gekommen ist, das hat die Historikerin Ulrike Jureit untersucht und eine umfangreiche Studie zum Thema veröffentlicht.
1936 veröffentlichte Konrad Meyer, Professor für Agrarwissenschaften in Berlin und einer der einflussreichsten Vertreter in der sogenannten Raumforschung im 'Dritten Reich‘, einen Aufsatz über die Grundsätze seiner Disziplin. Das deutsche Volk, heißt es da, sei nicht denkbar ohne seinen Lebensraum. Aus dem "Bewußtsein drohender Gefahr biologischen Volkstodes" erhebe sich die Forderung nach "volksgemäßer Ordnung des Raumes".

Was das Leitbild der "volksgemäßen Ordnung des Raumes" konkret bedeutete, zeigten die nationalsozialistische Rassenpolitik, der Vernichtungskrieg im Osten und der Massenmord an den europäischen Juden. Die Vernichtungspolitik der Deutschen war Ziel - nicht Folge - einer an diversen Raumbildern orientierten Herrschaftsvision, urteilt Ulrike Jureit, Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung. In ihrer umfangreichen Studie über Raumdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert zeigt die Historikerin, wie geopolitische Entwürfe in der Moderne immer mehr an Einfluss gewannen und schließlich von den Nationalsozialisten zur Grundlage der rassistischen Expansionspolitik erklärt wurden.

Staaten wurden zu organischen Körpern
Dabei konnten sich braune Raum- und Boden-Schwadroneure wie Konrad Mayer oder auch Karl Haushofer, Begründer der bis 1944 erscheinenden "Zeitschrift für Geopolitik", durchaus auf ältere Theoriegebilde stützen. Zu den Vordenkern der Vorstellung vom "Lebensraum" gehörten die Geografen Moritz Wagner und Friedrich Ratzel im späten 19. Jahrhundert. Beide entwarfen, in einer Kombination von Geografie und Darwins Evolutionstheorie, ein erstes "Lebensraum"-Konzept. Staaten wurden dabei zu organischen Körpern erklärt, in der "Concurrenz aller Wesen um Raum, Nahrung und Fortpflanzung" sahen Wagner und sein Schüler Ratzel ein Grundprinzip moderner Politik. Die logische Folge aus ihrer Sicht: "der Kampf um das Dasein" oder "der Kampf um Raum".

Diese auf dem Katheter entworfene Geopolitik fand ihre Entsprechung in den kolonialen Expansionsbestrebungen der Deutschen in Afrika, so Ulrike Jureit. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem erhofften "Griff nach der Weltmacht" spielten die "Lebensraum"-Vorstellungen dann immer mehr mit Blick auf die europäische Ordnung eine bestimmende Rolle. Im Zuge des Krieges und, mehr noch, durch die Folgen des Versailler Vertrags wurde der Diskurs über den Kampf um "Lebensraum" zu einem der zentralen Themen in der deutschen Politik. Hans Grimms Roman "Volk ohne Raum" aus dem Jahr 1926, die Geschichte eines Bauernsohnes, der in Deutsch-Südwest-Afrika sein Glück finden will, war nicht ohne Grund ein Bestseller.

Die Raum-Theoretiker des "Dritten Reiches" griffen die verschiedenen Denkgebäude auf und radikalisierten sie schrittweise. Zwischen den Kolonialdiskursen im späten 19. Jahrhundert und den Plänen für den "Lebensraum Ost" liegen beträchtliche Welten, aber es gibt - wie Ulrike Jureit unter Rückgriff auf einen großen Quellenfundus zeigt - durchaus gedankliche Kontinuitäten. Die Studie über Raum-Vorstellungen ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der pseudowissenschaftlichen Grundlagen der deutschen Vernichtungspolitik. Sie führt vor Augen, welche fatalen Folgen mächtige Denkströmungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatten.

Besprochen von Niels Beintker


Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert
Hamburger Edition, Hamburg 2012
445 Seiten, 38,00 Euro


Links bei dradio.de:
Gedenken an den Holocaust im Wandel
"Das Unbehagen an der Erinnerung" und "Das umstrittene Gedächtnis"

Im Sog der Verdichtung
Ulrike Jureit: "Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert."

Erinnern an das Grauen
Ulrike Jureit/Christian Schneider: "Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung", Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 253 Seiten
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