Mögliche Interventionswege der EU

20.03.2013
Angesichts der dramatischen Entwicklungen in Mitgliedsländern wie Rumänien und Ungarn stellt sich die Frage: Könnten Demokratisierungsprozesse in EU-Staaten umkehrbar sein? Der Politologe Jan-Werner Müller beschäftigt sich mit möglichen Lösungswegen. Und fragt: Was kann, was darf Brüssel tun?
Ein Land, das EU-Mitglied wird, hat es geschafft. Es hat alle Verfahren und Institutionen, die ein demokratischer Rechtsstaat braucht. Seine Bürger sind mit robusten Grundrechten geschützt. Es hat sich im Beitrittsverfahren allerhand Vorgaben und Kontrollen unterzogen. Es hat das Vertrauen der anderen EU-Staaten erworben. Und sie sind, im Prinzip jedenfalls, bereit, dem neuen Mitglied eine Mitsprache über ihre eigenen Angelegenheiten einzuräumen. Und sie sind mit allen Konsequenzen zur wechselseitigen Anerkennung der Rechtsprechung bereit. Der Status als EU-Mitglied ist ein Synonym für die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und muss es auch sein.

Aber was, wenn das Land dann drin ist? Was, wenn anschließend Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte wieder zurückgebaut werden? Was, wenn sich der Eindruck festsetzt, dass das wechselseitige Vertrauen, das die EU ihren Mitgliedsstaaten abverlangt, eigentlich gar keine Grundlage hat? Die Art, wie in Ungarn oder in Rumänien die Regierungen gegenwärtig mit ihren jeweiligen Verfassung umspringen, wirft diese Fragen in aller Dringlichkeit auf. Nur: Es gibt keine, auch nur annähernd zufriedenstellenden Antworten auf sie.

In diese Lücke stößt Jan-Werner Müllers schmale Streitschrift. Am Beispiel Ungarns zeigt der Politologe, der an der amerikanischen Elite-Universität Princeton politische Theorie und Ideengeschichte lehrt, detailliert den Weg eines relativ erfolgreichen demokratischen Verfassungsstaates in eine illiberale "gelenkte Demokratie", in der die Verfassung vor allem dazu da ist, der gegenwärtigen Regierungspartei auch über künftige Wahlniederlagen hinaus einen möglichst großen Teil der Macht zu sichern.

Das Buch zielt aber nicht so sehr darauf, Ungarn zur Umkehr zu bewegen, sondern die Möglichkeiten der EU zu analysieren, auf Entwicklungen wie in Ungarn zu reagieren. Wer wissen will, mit welchem Recht sich die EU in die verfassungspolitischen Angelegenheiten ihrer Mitgliedsstaaten einmischen darf und wie ihr spärlicher Instrumentenkasten dabei bestückt ist, findet in diesem Buch alles, was er braucht, und das in überaus les- und nachvollziehbarer Sprache und Form.

Schwerer ist allerdings die Frage zu beantworten, was denn die EU an weiteren Instrumenten in die Hand bekommen sollte, um Mitgliedsstaaten daran zu hindern, ihre Verfassungen zu ruinieren. Eine konkrete Forderung hat Müller zumindest im Gepäck, nämlich eine unabhängige Kommission, die über die mitgliedsstaatlichen Verfassungsstandards wacht und notfalls Alarm schlägt.

Indes: Was hilft bloßer Alarm, wenn dann nichts passiert? Dass sich mit einer solchen Kommission alle Probleme in Luft auflösen, behauptet Müller nicht. Sanktionen, die nur bewirken, dass sich die betroffene Bevölkerung im Protest hinter ihrer undemokratischen Regierung versammelt, bringen wenig Nutzen und viel Schaden. Das weiß Müller, und deshalb ist ein Verdienst und kein Makel seines Buches, dass es statt wohlfeiler Patentrezepte vor allem gründliche und bemerkenswert frisch geschriebene Analyse bietet. Wir werden noch viel nachdenken und diskutieren müssen, ehe wir hoffen können, für das Problem konstitutionell erodierender EU-Mitgliedsstaaten eine Lösung zu finden. Müllers Buch ist der ideale Einstieg dazu.

Besprochen von Max Steinbeis

Jan-Werner Müller: Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie
Suhrkamp, Berlin 2013, 79 Seiten, 7,99 Euro
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