Moderne Moral

09.10.2009
Der Schriftstellerin Eva Menasse geht es in ihrem Erzählband "Lässliche Todsünden" um kleine Gemeinheiten, Engherzigkeiten und Gefühlsschlampereien im heutigen Zusammenleben.
Ihrer Sammlung von sieben Erzählungen hat Eva Menasse eine gewichtige Klammer gegeben: die sieben sogenannten Todsünden der mittelalterlichen Theologie, die im katholischen Katechismus aber eigentlich nicht als Sünden, sondern bloß als Laster firmieren, als schlechte Charaktereigenschaften – etwa Neid, Habgier, Hochmut, Zorn oder Wollust. Außer unverzeihlichen Hauptsünden wie Mord oder Ehebruch kennt die katholische Kirche auch lässliche, im Jenseits minder Straf bedrohte Sünden. Indem die Autorin im Titel ihres Buches diese drei Sündenkategorien als Widerspruch in sich vermischt, gibt sie einen Hinweis auf das Thema ihres Erzähl-Projekts: die Relativierung des Sündenbegriffs im säkularisierten, kirchenfernen und moralisch schlampigen Alltagsverhalten heutiger Menschen. Ohne verbindlichen Verhaltenskodex verschwimmen Sünden, Laster und moralische Fehltritte, die ohnehin längst von keiner beglaubigten Instanz mehr geahndet werden, in allgemeiner Unschärfe und Laxheit. Insofern sind Eva Menasses moralische Geschichten ohne Moral. Genauer gesagt: Die Moral dieser Geschichten liegt im indirekten Hinweis auf den Mangel an Moral.

Alle sieben Beispiel-Geschichten verweisen erkennbar auf den Schauplatz Wien, auf ganz spezifische Wiener Milieus und den dort jeweils geltenden Verhaltens- und Sprachkodex. In dieser Szene kennt sich die Autorin gut aus. Menasses Personal rekrutiert sich vornehmlich aus Journalisten, Studenten, Fernseh-Mitarbeitern, Kleinbühnen-Regisseuren, Assistenten von Professoren oder Ministern und aufstrebenden Lyrikern, gelegentlich gesprenkelt mit Restbeständen des altösterreichischen Landadels als kuriosen Kontrast-Figuren.

Es handelt sich also um eine vorwiegend links-alternative intellektuelle Wiener Boheme, die ihren eigenen Lebensstil unbürgerlicher Bürgerlichkeit pflegt und sich in der Abgrenzung gegen jedes Establishment selbst schon fest etabliert hat. Man trifft sich in bestimmten Szene-Beisln, Kneipen wie dem "Blaubichler" oder dem "Jakobinerwirt"; man schummelt sich durchs Leben anhand von ungeschriebenen Gesetzen, deren Geltungskraft freilich durch Schlamperei gemildert ist. Fremdgehen gehört zum Lebensstil, nur Landeier tragen Lodenjanker, und einen Aristokraten erkennt man daran, dass er Kaisersemmeln zerreißt, aber keinesfalls mit dem Messer entzweischneidet.

All dies wird in einem sehr unterhaltsamen, blasierten Tonfall vorgetragen, der zwischen Außen und Innen, zwischen kühler Distanz und genauer Milieu-Kenntnis hin- und herpendelt, zwischen überlegener Ironie und Insider-Arroganz.

Es gehört zum morbiden Reiz von Menasses Geschichten, dass die jeweiligen Laster, die dem Titel nach vorgeführt werden sollen, sich gar nicht strikt abgrenzen lassen, sich vielmehr mit anderen Lastern so stark amalgamieren, dass die Storys über Gefräßigkeit oder Habgier ebenso gut als Exempel für Neid oder Geiz dienen könnten. Und die Hochmut-Story ist auch eine verkappte Trägheits-Geschichte. Wie denn überhaupt eine gewisse Trägheit des Herzens eine Charaktereigenschaft vieler Menasse-Figuren ist. Die Autorin lässt alle Laster immer nur nebenbei aufblitzen, ganz ohne sarkastisch-moralische Drücker.

In diesen Geschichten herrscht ein täuschend lässiger und entspannter Erzählton – die perfekte Camouflage für den strengen und unverwandten Forscherinnen-Blick, mit dem die Autorin insgeheim das fragwürdige Treiben ihrer Figuren-Fauna betrachtet. Dabei geht es ja nie um gravierende Fehltritte, sondern eher um Verstöße und Vergehen im Mikro-Bereich – um kleine Gemeinheiten, Engherzigkeiten, Gefühlsschlampereien und kleinlich-rachsüchtige Bosheiten. Charakterdefizite offenbaren sich nicht in eindrucksvollen moralischen Verfehlungen, sondern in banaler Schäbigkeit.

Besprochen von Sigrid Löffler

Eva Menasse: "Lässliche Todsünden", Erzählungen
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 253 S., 18,95 Euro