Moderne Heimatgeschichte

10.08.2010
Immer hart am Kitsch entlang: Tim Krohns Alpensaga um ein ungestümes Bergmädchen spielt mit Reminiszenzen an die "Heidi"-Figur - und umschifft doch raffiniert alle Klischees.
Um hochalpines Gelände, dort wo die Bevölkerungsdichte mit jedem Höhenmeter abnimmt, machte die hohe Literatur zumeist einen großen Bogen. Mit Bergromantik und Gipfelglück hatte sie kaum etwas am Hut, schon gar nicht mit dem Geisterglauben, den sich die wenigen Bergbewohner erfanden, um seit jeher ihr beschwerliches Leben zu fristen. Selbst seit die Alpen zu einem riesigen, gut markierten Freizeitpark geworden sind, hat sich das kaum geändert.

Da gehört schon eine Portion Mut dazu, wenn der 1965 in Nordrhein-Westfalen geborene Tim Krohn, ein Flachlandbewohner also, die Berge mitsamt ihrem Mythenpotential zum Schauplatz einer kleinen Novelle macht. Anders als in seinen Bestsellern "Quatemberkinder" (1998) und "Vrenelis Gärtli" (2007), die in vergangenen Jahrhunderten spielen, erzählt er in "Der Geist am Berg" eine moderne Heimatgeschichte.

Stine, eine junge Frau, lebt mit ihrer Mutter und einem Knecht jahraus - jahrein hoch oben am Engadiner Piez Spiert in einer Alphütte. Früher hatten dort Kühe geweidet, doch schmelzende Gletscher verwandelten die Alpe in eine Einöde aus Fels und Geröll, auf der nur mehr Ziegen Halt finden. Ihr einziges Vergnügen: Barfuss rennt sie kurz vor Sonnenuntergang den schrundigen Teufelsgupf empor und läuft mit den Schatten um die Wette. Nichts kann sie vom Berg vertreiben, hier ist sie glücklich. Erst als das Geld zu knapp wird und die Bank keinen Kredit mehr geben möchte, tritt sie einen Job in der Bar des Grandhotels im Tal an. Dort trifft sie Bruno, den sie mit ihrer Wildheit verzaubert. Als der sie fallen lässt und nach Genf zu seiner Verlobten zurückkehrt, nimmt das Unglück seinen Lauf.

Es ist eine anachronistische Geschichte, eine Art Märchen, das freimütig mit zahlreichen Versatzstücken aus populären Vorlagen spielt. Ganz offensichtlich stand für das verführerische Bergwesen der Inbegriff eines weiblichen Wildfangs Pate, der sich allen Konventionen eines zivilisierten Lebens verweigert: Johanna Spyris "Heidi". Aber auch Wilhelmine von Hillerns "Geierwally" geistert durch die Zeilen, die Frau, die den Männer den Kopf verdreht und entgegen aller Vernunft nur den einen will. Am Ende bedient sich Krohn sogar – geographisch auf entlegenem Terrain wildernd – bei Andersens Nixenmärchen von der kleinen Meerjungfrau.

Doch diese Gratwanderung, immer hart am Kitsch entlang, meistert Tim Krohn eindrucksvoll, indem er den Legendenton, mit dem er seine Geschichte um eine verrückte Liebe imprägniert, scheinbar beiläufig durch sehr heutige Beobachtungen erdet. Da fliegen nicht nur Helikopter durch die Luft, der Ökotourismus hält auch in der Bergwelt Einzug, und in der Stadt lernt das ungestüme Naturkind nicht nur "auf Kredit zu lächeln". Dank ihres wohldosierten Sprachwitzes wird diese knapp 70-eitige Alpensaga zu einer raffiniert angelegten Fallstudie über das angestaubte Gegensatzpaar Natur und Zivilisation, es wird zu einer rasanten Berg- und Talfahrt zwischen den großen Gefühlen – jenseits aller Klischees.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Tim Krohn: Der Geist am Berg
Galiani-Verlag, Berlin 2010
79 Seiten, 13,95 Euro


Links bei dradio.de:

Rezension: Tim Krohn - "Ans Meer"

Rezension: Tim Krohn - "Warum die Erde rund ist"