Mobilitätsforscher Andreas Knie zum Tempolimit

Weniger Staus, weniger Unfälle, weniger Schadstoffe

Symbolbild für ein Tempolimit auf Autobahnen: Blick von oben auf ein Fahrzeug auf der linken Spur. Auf der Fahrbahn ist ein Schild für eine Höchstgeschwindigkeit von 130 zu sehen.
Tempolimit auf der Autobahnen: 130 km/h Höchst- statt Richtgeschwindigkeit? © imago/Ralph Peters
Andreas Knie im Gespräch mit Ute Welty · 23.01.2019
Parken, Rasen und Grillen "sind die letzten archaischen Bereiche männlichen Tuns", sagt der Soziologe Andreas Knie. Deshalb gebe es in Deutschland auch immer noch kein Tempolimit – obwohl aus wissenschaftlicher Sicht alles dafür spreche.
Freie Fahrt für freie Bürger – wo gibt's denn so was (noch)? Für den Soziologen und Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) ist das Fehlen eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen völlig "aus der Zeit gefallen". Es gebe wohl mittlerweile kein Land der Welt mehr, das kein Tempolimit habe, sagte er im Deutschlandfunk Kultur.
Nur Deutschland leiste sich diesen Luxus. "Weil wir immer noch glauben, dass wir so einige Tabus haben wie das freie Parken von privaten Autos – da darf auch keiner ran, das darf man nicht angreifen – und auch das schnelle Fahren oder die Möglichkeit zum schnellen Fahren auf Autobahnen", so Knie im Deutschlandfunk Kultur. "Das sind so die letzten archaischen Bereiche männlichen Tuns, da kann der Mann noch Mann sein, das ist wie beim Grillen im Garten, da sind die Männer noch unter sich."
Prof. Dr. Andreas Knie am 27.06.2017 in Berlin. Er forscht über selbstfahrende Fahrzeuge wie den fahrerlosen Bus Olli.
Andreas Knie forscht zu selbstfahrenden Autos.© picture alliance / Philipp Brandstädter / dpa
Es seien nämlich vorwiegend Männer, die die Möglichkeit haben wollten, schnell zu fahren, betont der Soziologe. "Das sind also noch Reflexe aus einer schon lange untergegangen Welt."

Strenge Regeln und konsequentes Ahnden

"Freie Fahrt für freie Bürger" möge vielleicht als Werbeslogan in einer Zeit funktioniert haben, in der nur wenige hunderttausend Autos unterwegs waren: "Jetzt, wo wir 47 Millionen PKW auf deutschen Autobahnen und Straßen haben, da ist es wirklich ganz, ganz wichtig, geregelt zu fahren, und da sind die individuellen Freiheiten, auszubrechen aus diesem Individualverkehr – so paradox das erscheint – einfach begrenzt", sagt Knie. Stattdessen seien strenge Regeln wichtig: "Und diese strengen Regeln müssen auch wirklich streng geahndet werden."
Wissenschaftlich gesehen spreche "nichts, aber auch gar nichts" gegen ein Tempolimit, betont der Verkehrsforscher. Im Gegenteil: "Die wissenschaftlichen Fachgemeinschaften sind sich eigentlich da schon seit Jahrzehnten einig, dass, wenn wir ein Tempolimit hätten, wir weniger Stau hätten, weniger Unfälle und sogar noch eine Absenkung der Schadstoffemissionen erwarten könnten."
Gleichwohl erwartet Knie nicht, dass sich schon sehr bald ein Tempolimit in Deutschland durchsetzen lassen wird: "Diese Legislaturperiode werden wir eine heftige Debatte darüber führen. Es wird keinen mehr geben, der dagegen was sagen kann. Und wir werden die vorbereitenden Maßnahmen entwickeln müssen, und wir werden möglicherweise dann in der kommenden Legislaturperiode den entsprechenden Gesetzesvorschlag erwarten können." (uko)

Das Gespräch im Wortlaut:

Ute Welty: Wenn heute der deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar beginnt, dann diskutieren Juristen, Mediziner und Psychologen nicht nur über Lkw-Unfälle und Punkte in Flensburg, sondern auch über ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Die Umwelthilfe hat das übliche Sommerlochthema schon sehr früh im Jahr ins Gespräch gebracht. Ja zum Tempolimit von 130, das sagt auch Andreas Knie, seit 2000 außerplanmäßiger Professor an der Technischen Universität Berlin im Fachbereich Soziologie und da vor allem tätig im Bereich Sozialwissenschaftliche Technikforschung. Guten Morgen, Herr Knie!
Andreas Knie: Schönen guten Morgen!
Welty: Was spricht denn Ihrer Meinung nach für ein Tempolimit?
Knie: Ja, ich würde mal sagen, alle Gesetze der Vernunft.
Welty: Ach, dann ist’s ja einfach.
Knie: Die wissenschaftlichen Fachgemeinschaften sind sich eigentlich da schon seit Jahrzehnten einig, dass, wenn wir ein Tempolimit hätten, wir weniger Staus hätten, weniger Unfälle und sogar noch eine Absenkung der Schadstoffemissionen erwarten könnten. Und schaut man mal aus dem Fenster raus, dann ist, glaube ich, mittlerweile kein Land der Welt mehr, was es es nicht hat. Nur noch Deutschland leistet sich den Luxus, auf ein Tempolimit zu verzichten.
Welty: Und warum ist das so, warum leistet sich Deutschland diesen Luxus?
Knie: Ja, weil wir immer noch glauben, dass wir so einige Tabus haben – wie das freie Parken von privaten Autos, da darf auch keiner ran, das darf man nicht angreifen, und auch das schnelle Fahren oder die Möglichkeiten zum schnellen Fahren auf Autobahnen. Das sind so die letzten archaischen Bereiche männlicher Tugend, da kann der Mann noch Mann sein – das ist wie beim Grillen im Garten, da sind die Männer noch unter sich – da können sie noch fahren. Das haben wir übrigens auch rausbekommen, dass es vorwiegend Männer sind, die schnell fahren wollen oder zumindest die Möglichkeit haben wollen, schnell zu fahren. Das sind also noch Reflexe aus einer schon sehr lange untergegangenen Welt, denen wir uns hier immer noch erlauben zu frönen sozusagen.
Welty: Aber lässt sich ein chaotisches System wie der Individualverkehr denn wirklich effizient durch ein Tempolimit regulieren?
Knie: Ja, also es gibt wirklich nichts, aber auch gar nichts, was gegen ein Tempolimit spricht. Der Verkehrsfluss, das ist das, was wir alle haben wollen, wird durch eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit wesentlich besser organisiert. Ältere von uns kennen das noch, wir hatten den quasi Realversuch damals in der DDR, da war Tempo 100, daran haben sich auch alle gehalten, da ging es prima los.
Wir wissen auch aus allen Versuchen, dass dort, wo Tempolimit eingeführt worden ist – wir können ja nicht überall schnell fahren –, also dort, wo tatsächlich Begrenzungen vorgenommen worden sind, wir weniger Unfälle haben. Das ist ja schon mal ganz wichtig. Und es ist auch letztendlich für die Schadstoffentwicklung nach den Erkenntnissen, die bisher vorliegen, deutlich besser, wenn wir den Stop-and-go-Verkehr zumindest deutlich reduzieren können. Also wie gesagt, es spricht überhaupt nirgends, aber auch nirgendwo irgendein Argument für die Beibehaltung dieser alten Formel der freien Fahrt für freie Bürger.
Welty: Weiß der Verkehrsminister Andreas Scheuer das auch?
Knie: Ja, jetzt kommen wir natürlich zu den Ursachen, warum machen wir das bisher nicht. Also die letzten Verkehrsminister waren ja vor allen Dingen deutlich da unterwegs, wo es die Interessen der autoherstellenden Industrie sozusagen zu sichern galt und damit natürlich auch Arbeitsplätze gesichert werden können. Die deutsche Autoindustrie verkauft ja ihre Autos oder verkaufte ihre Autos ja lange Zeit als Autobahn-geprooft sozusagen.
Das waren Autos in Deutschland, aus Deutschland, die eben ganz schnell fahren konnten, und da war das freie Fahren auf Autobahnen ein ganz wichtiges Verkaufsargument. Aber was wir aus unserer Forschung oder auch was die Fachkollegen mittlerweile rausbekommen haben, dass dieses einfach aus der Zeit gefallen ist. Die Menschen wissen, dass das Tempolimit das Maß der Dinge ist, und wenn es ein Tempolimit gäbe, dann würden sich die Leute auch daran halten, insbesondere dann, wenn es denn bei Überschreitungen geahndet wird.
Welty: Inwieweit bedient ein Tempolimit auf Autobahnen auch ein Tempolimit auf den Hauptstraßen in den Innenstädten? Sind das nicht zwei Systeme, die ineinandergreifen müssen, um wirklich was zu bringen?
Knie: Ja, es gibt immer wieder um den Verkehrsfluss. Wir wollen ja schnell von A nach B, wir wollen das möglichst sozial gerecht, aber wir wollen es natürlich auch umweltschonend, und da ist das Tempolimit überall wichtig. Wir haben ja schon innerorts Geschwindigkeitsbegrenzungen, auch auf den Landstraßen. Die Franzosen haben jetzt auch noch mal reduziert auf den Landstraßen auf 80.
Wir sind in Deutschland ja dabei, in den Innenstädten zumindest Tempo 30 einzuführen, damit wir flächendeckend da ein kontinuierlicheren Fluss haben, denn immer dann, wenn der Mensch – und jetzt kommt die entscheidende Frage – glaubt, dass er besser unterwegs ist, wenn er sich individueller sozusagen Freiheiten verschafft, dann bringt er dieses System eher auseinander oder bringt es wenigstens durcheinander, als wenn er sich integrieren würde in ein Gesamtsystem.
Das heißt also, wir selber torpedieren immer dann, wenn wir ganz schnell mal auf die Tube drücken, diesen Fluss des Verkehrs, und deshalb sind wie gesagt strenge Regeln ganz wichtig, damit wir uns alle begrenzen, und diese strengen Regeln müssen auch wirklich streng geahndet werden.
Welty: Aber wenn man die Sache, die Sie da ansprechen, zu Ende denkt, dann heißt das doch, dass der Individualverkehr am besten abgeschafft gehört.
Knie: Nein, das ist wieder falsch. Individuell wollen wir alle unterwegs sein, aber ich sag mal, tatsächlich die Idee, dass wir da selber schalten und kuppeln und dann schnell durch die Gegend brausen, das ist vielleicht möglich gewesen, als wir noch wenige Hunderttausend Autos hatten.
Jetzt, wo wir 47 Millionen Pkws auf deutschen Autobahnen und Straßen haben, ist es wirklich ganz, ganz wichtig, geregelt zu fahren, und da sind die individuellen Freiheiten, auszubrechen aus diesem Individualverkehr – so paradox das erscheint – einfach begrenzt. Ich sag mal, je freiheitlicher man seine Freiheiten auf den deutschen Straßen interpretiert, desto weniger kommen die anderen voran.
Welty: Wenn Sie so überzeugt sind, wann kommt es denn dann, das Tempolimit auf deutschen Autobahnen?
Knie: Ja, also ich würde sagen, in dieser Legislaturperiode werden wir eine heftige Debatte darüber führen. Es wird keinen mehr geben, der dagegen was sagen kann. Wir werden die vorbereitenden Maßnahmen entwickeln müssen, und wir werden möglicherweise dann in der nächsten, der kommenden Legislaturperiode den entsprechenden Gesetzesvorschlag dann erwarten können.
Welty: Und wie werden sich die deutschen Autobauer bis dahin aufstellen, die ja eh ziemlich angegriffen sind, Stichwort Dieselgate?
Knie: Ja, auch die deutschen Autobauer haben kein Argument mehr, denn der deutsche Markt ist ja nur noch ein kleiner Absatzmarkt für die deutschen Hersteller. Schauen Sie sich China, schauen Sie sich die USA an, schauen Sie ins berühmte Kalifornien, schauen Sie überall in Europa – überall gibt es Tempolimits, zum Teil sehr, sehr streng, wie in den USA –, und dort wird diese Freiheit auch nicht begrenzt und das Abendland geht auch nicht unter, und die deutschen Autohersteller verkaufen auch dort prima Autos. Von daher wird es kein wirkliches Argument gegen ein Tempolimit geben, auch nicht von den Autoherstellern.
Welty: Sozialwissenschaftler Andreas Knie über die Deutschen und das Tempolimit, was eine Geschichte voller Missverständnisse zu sein scheint. Haben Sie herzlichen Dank!
Knie: Gerne doch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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