Mobbing fängt schon bei den Kleinsten an
Mobbing, keineswegs nur ein Problem der Erwachsenen im Berufsleben - viele Kinder haben im Schulalltag darunter zu leiden. Was können Eltern und Lehrer tun? Psychlogin Mechthild Schäfer hat die Antworten.
Klaus Pokatzky: Du Opfer! Das ist wohl das grauenhafteste Schimpfwort, das ist die demütigendste Beleidigung, die Kinder Kindern zufügen können. "Du Opfer!" heißt ein neues Buch, "Wenn Kinder Kinder fertigmachen". Gemeinsam mit der Journalistin Gabriela Herpell hat es die Psychologin Mechthild Schäfer vom Institut für Pädagogische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München geschrieben. Mechthild Schäfer begrüße ich nun im Studio in München – guten Tag, Frau Schäfer!
Mechthild Schäfer: Ja, ich grüße Sie!
Pokatzky: Frau Schäfer, was ist der schlimmste Fall von kindlichem Mobbing, den Sie erlebt haben und den Sie nicht mehr vergessen können?
Schäfer: Ich kann Ihnen ein Beispiel berichten, wo ich selber als Beraterin sozusagen dann dazugerufen wurde, eine Geschichte, die einfach unglaublich fatal gelaufen ist: Ein Kind, sehr begabt, wurde in einer Grundschule gemobbt. Das ging so schlimm, die Schule kam gar nicht damit zurecht. Das Kind wurde an einer anderen Grundschule aufgenommen, ganz unglücklich integriert, nämlich über ein anderes hochbegabtes Kind in der Klasse. Und dann stand das Kind – also unglücklich integriert, natürlich auch ein bisschen jünger als die anderen, weil schon eine Klasse übersprungen – stand plötzlich 24 Kindern quasi gegenüber in dieser Klasse. Diese 24 Kinder, jedes für sich ganz lieb, haben etwas geschafft, dass das Kind noch ein zweites Mal innerhalb der Grundschulzeit die Schule wechseln wollte. Und ich bin ganz sicher, dass keines dieser Kinder ein Bewusstsein darüber hat, was es angerichtet hat.
Pokatzky: Aber was wurde mit dem Kind gemacht? Was heißt in diesem Fall Mobbing?
Schäfer: Es können wirklich blöde Schimpfwörter sein, es kann das Raunen sein, es können so Klassiker sein, die Lehrer oft missverstehen. In der Klasse oder auf dem Gang darf nicht gerannt werden, also jagt man das Kind und hält es fest. Dann kommt die Lehrerin und sagt: Was ist hier los? Ja, wir dürfen doch nicht rennen, deshalb haben wir ihn festgehalten. Die Lehrerin denkt sich, ist was dran, hat ja die Vorgeschichte nicht gesehen, wer ist schuld? Beide. Die Täter, also die, die es gemacht haben, sind verstärkt, und das Opferkind denkt sich, ja, ich bin mal wieder der Blöde. Anderes Beispiel, weiß ich nicht, Finger wird in der Toilette eingeklemmt, ein Kind weint furchtbar, tut auch richtig doll weh – ja, der und der hat mir den Finger geklemmt. Was erst hinterher rauskam, aber der Lehrerin wahrscheinlich nie zu Ohren kam: Die hatten den Jungen eingesperrt in der Toilette, der hat versucht da rauszukommen, dabei ist dieses Einklemmen passiert. Wer kriegt Schuld? Im besten Fall beide. Erfolg für die Kinder, die es gemacht haben, Pech für das Kind, was betroffen ist.
Pokatzky: Das klingt aber teilweise zumindest an das, was ich mich aus meiner eigenen Schulzeit erinnere. Ab wann sagen Sie, beginnt Mobbing dann? Oder haben wir jetzt nur ein Wort gefunden für etwas, dass es immer in Schulen gegeben hat?
Schäfer: Hat es schon immer gegeben, es ist jetzt ein Begriff dafür da, und das Besondere ist, es sind die vielen Kleinigkeiten, die immer auf ein Kind zielen. Und das betroffene Kind, was in der Regel sehr geschickt ausgewählt wird, mit dem kann man es machen, der ist vielleicht neu in die Klasse gekommen – also es gibt verschiedene natürliche Situationen in Gruppen, die dazu führen können, dass plötzlich jemand sozial in einer schwierigen Position steht, ohne dass er wirklich was dafür kann. Das kann man nutzen, um selber cool dazustehen. Täter haben in der Regel eine Menge sozialer Intelligenz, um erstens zu wissen, wen sie auswählen müssen, und zum Zweiten, um auch die Klasse hinter sich zu bringen, also um eine Interpretation für Mitschüler wahrscheinlicher zu machen, der ist ja auch ein bisschen komisch, als dass die Kinder sagen, Moment, was wir gerade mit dem machen, ist doch eigentlich fies.
Pokatzky: Also das heißt, der Unterschied ist der, dass quasi die Täter es schaffen, die ganze Klasse hinter sich zu versammeln, während das, was Sie vorhin erzählt haben, mich doch mehr so daran erinnert, dass es das immer in Klassen gegeben hat, nur dass dann da auch Cliquen waren – die haben den einen gemobbt und dann standen aber wieder hinter den Gemobbten andere.
Schäfer: Ich denke mir, es ist ein bisschen eine Frage auch der Perspektive. Für Kinder, die gemobbt werden, ist das eine tägliche Schulerfahrung: Mein Ranzen verschwindet irgendwohin, bei einer Schulaufgabe ist mein Füller nicht da, drei Minuten später ist er wieder da, aber den Anschiss vom Lehrer habe ich schon mal kassiert. Ich werde vielleicht geschubst, wenn wir auf den Gang gehen und, und, und. Es sind tatsächlich Kleinigkeiten, die aber alle auf ein Kind fokussieren. Und für das Kind bedeutet das, es passiert nur mir, es passiert niemand anders – die logische Schlussfolgerung: Es muss an mir liegen.
Pokatzky: Ich spreche mit der Psychologin Mechthild Schäfer über Mobbing von Kindern gegen Kinder. Frau Schäfer, ist das denn heute alles wirklich sehr viel mehr als früher - oder widmen wir dem nur sehr viel mehr Aufmerksamkeit als früher?
Schäfer: Ich würde sagen, wir müssten dem noch deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Es ist sicher nicht schlimmer als früher – das Problem ist möglicherweise, dass die Kinder in der Klasse sich schneller in so was involvieren lassen. Eine Binsenweisheit aus der Entwicklungspsychologie: Dazugehören ist in einer Schulklasse alles. Das heißt, für Kinder ist es wahnsinnig wichtig zu wissen, wo stehe ich in der Klasse, wenn ich da morgens hinkomme, da sind meine drei Freunde, darauf kann ich mich verlassen, die sind auch jeden Tag da. Und wenn ich mit einem Streit habe, sind da immer noch zwei. Diese Sicherheit im System – ich hab jemanden zum Spielen auf dem Schulhof, es gibt jemand, der gerne neben mir sitzt –, diese Sicherheit wird für Kinder, die gemobbt werden, irgendwann aufgelöst. Das heißt, sie sind völlig außen stehend und sie haben unter einem entwicklungspsychologischen Aspekt auch nicht mehr Zugriff auf diese Ressource Peerbeziehung, die für ihre Entwicklung, die soziale Entwicklung, die emotionale, die kognitive außerordentlich wichtig sind. Das heißt, sie verarmen in ihren sozialen Beziehungen - und das bringt sie zusätzlich in einen Nachteil.
Pokatzky: Gibt es Kinder, die besonders prädestiniert sind, dass sie gemobbt werden?
Schäfer: Wenn wir im Längsschnitt Kinder befragen in der Grundschule und feststellen, Kind war in der Grundschule Opfer, die Kinder sechs Jahre später, das haben wir gemacht, wieder befragen, dann finden wir, dass eine Täterrolle stabil ist. Das heißt, dass sie mit einem Risiko von zwei, also deutlich erhöht, ein Kind, was in der Grundschule Täter war, in der weiterführenden Schule wieder zum Täter wird. Macht auch Sinn dieses Verhalten, der Erfolg wird verstärkt. Für Opferkinder finden wir dieses Muster nicht. Das heißt, Kinder, die in der Grundschule Opfer waren, haben ein ähnlich großes Risiko, in der weiterführenden Schule wieder zum Opfer zu werden, wie Kinder, die in der Grundschule kein Opfer waren.
Das ist eigentlich eine gute Nachricht – das Schlimme daran ist, dass wenn Kinder sehr stark in der Grundschule schon gemobbt werden und das bedeutet tatsächlich, dass das System da komplett versagt hat, wenn das so ist, kann es sein, dass sich erlernte Hilflosigkeit bei dem Kind einstellt. Das entspricht dem: Man handelt und hat die Erwartung einer Konsequenz. Also Klassiker: Ich stelle die Kaffeemaschine und erwarte, dass da irgendwann Kaffee durchläuft. Kinder, die gemobbt werden, versuchen in der Regel eine ganze Menge, aus der Situation wieder rauszukommen. Die sind freundlich zu den anderen, die laden die vielleicht sogar mal ein, sie gehen aus der Situation raus, sie wehren sich, und wenn all diese Strategien nicht funktionieren, dann kommt so dieses Gefühl, es ist ja sowieso egal, was ich mache, ich bin ja eh der Blöde. Spricht also wenig dafür, dass es mit der Person zu tun hat, wenn jemand über längere Zeit zum Opfer wird, sondern es spricht mehr dafür, dass es mit dem Kontext zu tun hat. Also zwei gleiche Kinder können Sie in zwei Klassen stecken, es kann dem einen Kind passieren, dass es gemobbt wird, das andere macht eine wunderbare Schulkarriere.
Pokatzky: Die andere beliebte Frage ist natürlich: Wer mobbt? Gibt es hier bestimmte Bilder der Täter, einen bestimmten sozialen Hintergrund, Elternhaus?
Schäfer: Wir sagen oder drücken es immer ganz vorsichtig aus: Aggression ist das Ergebnis früher Sozialisation – was letztlich nichts anderes heißt: Man lernt das von zu Hause. Da ist aber sehr große Vorsicht geboten. Das heißt also, Kinder, die mobben, sind nicht die Kinder, die aus Elternhäusern kommen, wo geschlagen wird oder wo grob miteinander umgegangen wird, sondern Kinder, die mobben, können nicht selten aus Familien kommen, wo es einfach darum geht, es ist gut, wenn du dich durchsetzt, es ist prima, wenn du kein Zweite-Reihe-Kind bist. Kinder, die mobben, können aus jeder Schicht kommen, und diese Idee zum Beispiel, dass an Gymnasien weniger gemobbt wird als an Hauptschulen, das ist Quatsch, an Hauptschulen sieht man es nur deutlicher, weil da mitunter eher körperliche Aggression eingesetzt wird, während an Gymnasien eben man einfach weiß, wie man jemand geschickt mit Gerüchten oder blöden Sprüchen, Gossiping halt einfach ausgrenzen kann.
Pokatzky: Warum mobben Kinder andere?
Schäfer: Eigentlich ist das ganz einfach: Aggression ist eine supertolle Strategie, sie führt was immer zum Erfolg und sie ist sehr schnell erfolgreich. Wer damit positive Erfahrungen macht, warum soll der eine andere Strategie anwenden?
Pokatzky: Wie verhalten sich die Lehrer, machen die Lehrer das Richtige?
Schäfer: Es gibt viele Lehrer, die haben eine absolut gute Übersicht, die kennen das Phänomen und reagieren richtig, und sie reagieren vor allen Dingen frühzeitig, wenn sie was merken. Es gibt aber auch einen großen Anteil von Lehrern, die, wenn sie Mobbing sehen, es für Aggression halten, weil die Formen, die eingesetzt werden, sind aggressives Verhalten und von daher ähnlich. Der Punkt ist nur, die Intervention bei Aggressionen, wo es häufig um nicht gelöste Konflikte geht, ist eine völlig andere als bei Mobbing, wo es um Macht geht. Das heißt, es ist nicht eine Frage, ob das Opfer und der Täter sich mal aussprechen müssen oder irgendwas klären, sondern es geht darum, dass einer der Klasse soziale Macht haben möchte und einen geschickten Weg gefunden hat, die zu erlangen, indem er sich jemand ausgesucht hat, mit dem er es besonders leicht machen kann, ohne dass er Gegenwehr zu befürchten hat.
Pokatzky: Was können Eltern von gemobbten Kindern tun? Sie schreiben in dem Buch, was Eltern auf gar keinen Fall tun sollten, nämlich etwa als Eltern des Opfers mit den Eltern des Täters sprechen. Aber was können Eltern nun wirklich tun?
Schäfer: Ganz wichtig ist, sich an der Schule zu überlegen, und zwar im Gespräch mit dem Kind, gibt es jemand, der ein offenes Ohr hat, gibt es jemand, der glaubt, was dem Kind passiert. Weil es ist ja nicht selten so, dass wenn Mobbing schon eine Zeit lang gelaufen ist, dass dann die Schule ankommt und sagt, ja, jetzt beweisen Sie überhaupt erst mal, dass das Kind gemobbt wird. Also, wo ist ein offener Kanal? Diesen Kanal nutzen, dem Kind erklären: Wir versuchen, was geht, wir werden eine Lösung finden, wir können aber nicht dafür garantieren, dass es ganz schnell geht. Dem Kind klarmachen, du bist nicht schuld, und ihnen zu erklären, nein, nein, du bist einfach nur am falschen Ort zur falschen Zeit sozusagen gewesen, und wenn du aus der Klasse rausgehen würdest, kann man relativ sicher sein, dass es einen von deinen Mitschülern als nächstes erwischen würde.
Pokatzky: Ich bedanke mich bei der Psychologin Mechthild Schäfer. Sie hat gemeinsam mit Gabriele Herpell das Mobbingbuch verfasst "Du Opfer! Wenn Kinder Kinder fertigmachen". Es ist erschienen bei Rowohlt, hat 256 Seiten und kostet 16,95 Euro.
Mechthild Schäfer: Ja, ich grüße Sie!
Pokatzky: Frau Schäfer, was ist der schlimmste Fall von kindlichem Mobbing, den Sie erlebt haben und den Sie nicht mehr vergessen können?
Schäfer: Ich kann Ihnen ein Beispiel berichten, wo ich selber als Beraterin sozusagen dann dazugerufen wurde, eine Geschichte, die einfach unglaublich fatal gelaufen ist: Ein Kind, sehr begabt, wurde in einer Grundschule gemobbt. Das ging so schlimm, die Schule kam gar nicht damit zurecht. Das Kind wurde an einer anderen Grundschule aufgenommen, ganz unglücklich integriert, nämlich über ein anderes hochbegabtes Kind in der Klasse. Und dann stand das Kind – also unglücklich integriert, natürlich auch ein bisschen jünger als die anderen, weil schon eine Klasse übersprungen – stand plötzlich 24 Kindern quasi gegenüber in dieser Klasse. Diese 24 Kinder, jedes für sich ganz lieb, haben etwas geschafft, dass das Kind noch ein zweites Mal innerhalb der Grundschulzeit die Schule wechseln wollte. Und ich bin ganz sicher, dass keines dieser Kinder ein Bewusstsein darüber hat, was es angerichtet hat.
Pokatzky: Aber was wurde mit dem Kind gemacht? Was heißt in diesem Fall Mobbing?
Schäfer: Es können wirklich blöde Schimpfwörter sein, es kann das Raunen sein, es können so Klassiker sein, die Lehrer oft missverstehen. In der Klasse oder auf dem Gang darf nicht gerannt werden, also jagt man das Kind und hält es fest. Dann kommt die Lehrerin und sagt: Was ist hier los? Ja, wir dürfen doch nicht rennen, deshalb haben wir ihn festgehalten. Die Lehrerin denkt sich, ist was dran, hat ja die Vorgeschichte nicht gesehen, wer ist schuld? Beide. Die Täter, also die, die es gemacht haben, sind verstärkt, und das Opferkind denkt sich, ja, ich bin mal wieder der Blöde. Anderes Beispiel, weiß ich nicht, Finger wird in der Toilette eingeklemmt, ein Kind weint furchtbar, tut auch richtig doll weh – ja, der und der hat mir den Finger geklemmt. Was erst hinterher rauskam, aber der Lehrerin wahrscheinlich nie zu Ohren kam: Die hatten den Jungen eingesperrt in der Toilette, der hat versucht da rauszukommen, dabei ist dieses Einklemmen passiert. Wer kriegt Schuld? Im besten Fall beide. Erfolg für die Kinder, die es gemacht haben, Pech für das Kind, was betroffen ist.
Pokatzky: Das klingt aber teilweise zumindest an das, was ich mich aus meiner eigenen Schulzeit erinnere. Ab wann sagen Sie, beginnt Mobbing dann? Oder haben wir jetzt nur ein Wort gefunden für etwas, dass es immer in Schulen gegeben hat?
Schäfer: Hat es schon immer gegeben, es ist jetzt ein Begriff dafür da, und das Besondere ist, es sind die vielen Kleinigkeiten, die immer auf ein Kind zielen. Und das betroffene Kind, was in der Regel sehr geschickt ausgewählt wird, mit dem kann man es machen, der ist vielleicht neu in die Klasse gekommen – also es gibt verschiedene natürliche Situationen in Gruppen, die dazu führen können, dass plötzlich jemand sozial in einer schwierigen Position steht, ohne dass er wirklich was dafür kann. Das kann man nutzen, um selber cool dazustehen. Täter haben in der Regel eine Menge sozialer Intelligenz, um erstens zu wissen, wen sie auswählen müssen, und zum Zweiten, um auch die Klasse hinter sich zu bringen, also um eine Interpretation für Mitschüler wahrscheinlicher zu machen, der ist ja auch ein bisschen komisch, als dass die Kinder sagen, Moment, was wir gerade mit dem machen, ist doch eigentlich fies.
Pokatzky: Also das heißt, der Unterschied ist der, dass quasi die Täter es schaffen, die ganze Klasse hinter sich zu versammeln, während das, was Sie vorhin erzählt haben, mich doch mehr so daran erinnert, dass es das immer in Klassen gegeben hat, nur dass dann da auch Cliquen waren – die haben den einen gemobbt und dann standen aber wieder hinter den Gemobbten andere.
Schäfer: Ich denke mir, es ist ein bisschen eine Frage auch der Perspektive. Für Kinder, die gemobbt werden, ist das eine tägliche Schulerfahrung: Mein Ranzen verschwindet irgendwohin, bei einer Schulaufgabe ist mein Füller nicht da, drei Minuten später ist er wieder da, aber den Anschiss vom Lehrer habe ich schon mal kassiert. Ich werde vielleicht geschubst, wenn wir auf den Gang gehen und, und, und. Es sind tatsächlich Kleinigkeiten, die aber alle auf ein Kind fokussieren. Und für das Kind bedeutet das, es passiert nur mir, es passiert niemand anders – die logische Schlussfolgerung: Es muss an mir liegen.
Pokatzky: Ich spreche mit der Psychologin Mechthild Schäfer über Mobbing von Kindern gegen Kinder. Frau Schäfer, ist das denn heute alles wirklich sehr viel mehr als früher - oder widmen wir dem nur sehr viel mehr Aufmerksamkeit als früher?
Schäfer: Ich würde sagen, wir müssten dem noch deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Es ist sicher nicht schlimmer als früher – das Problem ist möglicherweise, dass die Kinder in der Klasse sich schneller in so was involvieren lassen. Eine Binsenweisheit aus der Entwicklungspsychologie: Dazugehören ist in einer Schulklasse alles. Das heißt, für Kinder ist es wahnsinnig wichtig zu wissen, wo stehe ich in der Klasse, wenn ich da morgens hinkomme, da sind meine drei Freunde, darauf kann ich mich verlassen, die sind auch jeden Tag da. Und wenn ich mit einem Streit habe, sind da immer noch zwei. Diese Sicherheit im System – ich hab jemanden zum Spielen auf dem Schulhof, es gibt jemand, der gerne neben mir sitzt –, diese Sicherheit wird für Kinder, die gemobbt werden, irgendwann aufgelöst. Das heißt, sie sind völlig außen stehend und sie haben unter einem entwicklungspsychologischen Aspekt auch nicht mehr Zugriff auf diese Ressource Peerbeziehung, die für ihre Entwicklung, die soziale Entwicklung, die emotionale, die kognitive außerordentlich wichtig sind. Das heißt, sie verarmen in ihren sozialen Beziehungen - und das bringt sie zusätzlich in einen Nachteil.
Pokatzky: Gibt es Kinder, die besonders prädestiniert sind, dass sie gemobbt werden?
Schäfer: Wenn wir im Längsschnitt Kinder befragen in der Grundschule und feststellen, Kind war in der Grundschule Opfer, die Kinder sechs Jahre später, das haben wir gemacht, wieder befragen, dann finden wir, dass eine Täterrolle stabil ist. Das heißt, dass sie mit einem Risiko von zwei, also deutlich erhöht, ein Kind, was in der Grundschule Täter war, in der weiterführenden Schule wieder zum Täter wird. Macht auch Sinn dieses Verhalten, der Erfolg wird verstärkt. Für Opferkinder finden wir dieses Muster nicht. Das heißt, Kinder, die in der Grundschule Opfer waren, haben ein ähnlich großes Risiko, in der weiterführenden Schule wieder zum Opfer zu werden, wie Kinder, die in der Grundschule kein Opfer waren.
Das ist eigentlich eine gute Nachricht – das Schlimme daran ist, dass wenn Kinder sehr stark in der Grundschule schon gemobbt werden und das bedeutet tatsächlich, dass das System da komplett versagt hat, wenn das so ist, kann es sein, dass sich erlernte Hilflosigkeit bei dem Kind einstellt. Das entspricht dem: Man handelt und hat die Erwartung einer Konsequenz. Also Klassiker: Ich stelle die Kaffeemaschine und erwarte, dass da irgendwann Kaffee durchläuft. Kinder, die gemobbt werden, versuchen in der Regel eine ganze Menge, aus der Situation wieder rauszukommen. Die sind freundlich zu den anderen, die laden die vielleicht sogar mal ein, sie gehen aus der Situation raus, sie wehren sich, und wenn all diese Strategien nicht funktionieren, dann kommt so dieses Gefühl, es ist ja sowieso egal, was ich mache, ich bin ja eh der Blöde. Spricht also wenig dafür, dass es mit der Person zu tun hat, wenn jemand über längere Zeit zum Opfer wird, sondern es spricht mehr dafür, dass es mit dem Kontext zu tun hat. Also zwei gleiche Kinder können Sie in zwei Klassen stecken, es kann dem einen Kind passieren, dass es gemobbt wird, das andere macht eine wunderbare Schulkarriere.
Pokatzky: Die andere beliebte Frage ist natürlich: Wer mobbt? Gibt es hier bestimmte Bilder der Täter, einen bestimmten sozialen Hintergrund, Elternhaus?
Schäfer: Wir sagen oder drücken es immer ganz vorsichtig aus: Aggression ist das Ergebnis früher Sozialisation – was letztlich nichts anderes heißt: Man lernt das von zu Hause. Da ist aber sehr große Vorsicht geboten. Das heißt also, Kinder, die mobben, sind nicht die Kinder, die aus Elternhäusern kommen, wo geschlagen wird oder wo grob miteinander umgegangen wird, sondern Kinder, die mobben, können nicht selten aus Familien kommen, wo es einfach darum geht, es ist gut, wenn du dich durchsetzt, es ist prima, wenn du kein Zweite-Reihe-Kind bist. Kinder, die mobben, können aus jeder Schicht kommen, und diese Idee zum Beispiel, dass an Gymnasien weniger gemobbt wird als an Hauptschulen, das ist Quatsch, an Hauptschulen sieht man es nur deutlicher, weil da mitunter eher körperliche Aggression eingesetzt wird, während an Gymnasien eben man einfach weiß, wie man jemand geschickt mit Gerüchten oder blöden Sprüchen, Gossiping halt einfach ausgrenzen kann.
Pokatzky: Warum mobben Kinder andere?
Schäfer: Eigentlich ist das ganz einfach: Aggression ist eine supertolle Strategie, sie führt was immer zum Erfolg und sie ist sehr schnell erfolgreich. Wer damit positive Erfahrungen macht, warum soll der eine andere Strategie anwenden?
Pokatzky: Wie verhalten sich die Lehrer, machen die Lehrer das Richtige?
Schäfer: Es gibt viele Lehrer, die haben eine absolut gute Übersicht, die kennen das Phänomen und reagieren richtig, und sie reagieren vor allen Dingen frühzeitig, wenn sie was merken. Es gibt aber auch einen großen Anteil von Lehrern, die, wenn sie Mobbing sehen, es für Aggression halten, weil die Formen, die eingesetzt werden, sind aggressives Verhalten und von daher ähnlich. Der Punkt ist nur, die Intervention bei Aggressionen, wo es häufig um nicht gelöste Konflikte geht, ist eine völlig andere als bei Mobbing, wo es um Macht geht. Das heißt, es ist nicht eine Frage, ob das Opfer und der Täter sich mal aussprechen müssen oder irgendwas klären, sondern es geht darum, dass einer der Klasse soziale Macht haben möchte und einen geschickten Weg gefunden hat, die zu erlangen, indem er sich jemand ausgesucht hat, mit dem er es besonders leicht machen kann, ohne dass er Gegenwehr zu befürchten hat.
Pokatzky: Was können Eltern von gemobbten Kindern tun? Sie schreiben in dem Buch, was Eltern auf gar keinen Fall tun sollten, nämlich etwa als Eltern des Opfers mit den Eltern des Täters sprechen. Aber was können Eltern nun wirklich tun?
Schäfer: Ganz wichtig ist, sich an der Schule zu überlegen, und zwar im Gespräch mit dem Kind, gibt es jemand, der ein offenes Ohr hat, gibt es jemand, der glaubt, was dem Kind passiert. Weil es ist ja nicht selten so, dass wenn Mobbing schon eine Zeit lang gelaufen ist, dass dann die Schule ankommt und sagt, ja, jetzt beweisen Sie überhaupt erst mal, dass das Kind gemobbt wird. Also, wo ist ein offener Kanal? Diesen Kanal nutzen, dem Kind erklären: Wir versuchen, was geht, wir werden eine Lösung finden, wir können aber nicht dafür garantieren, dass es ganz schnell geht. Dem Kind klarmachen, du bist nicht schuld, und ihnen zu erklären, nein, nein, du bist einfach nur am falschen Ort zur falschen Zeit sozusagen gewesen, und wenn du aus der Klasse rausgehen würdest, kann man relativ sicher sein, dass es einen von deinen Mitschülern als nächstes erwischen würde.
Pokatzky: Ich bedanke mich bei der Psychologin Mechthild Schäfer. Sie hat gemeinsam mit Gabriele Herpell das Mobbingbuch verfasst "Du Opfer! Wenn Kinder Kinder fertigmachen". Es ist erschienen bei Rowohlt, hat 256 Seiten und kostet 16,95 Euro.