"... mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise ..."

Von Rolf Wiggershaus · 30.09.2009
Wie der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher diesen Satz beendete, ist auf den Videoaufnahmen nicht mehr zu vernehmen. Zu laut war der Jubel der DDR-Flüchtlinge in Prag. In Zelten lebten dort über 5000 Menschen auf dem Botschaftsgelände.
Im Mai 1989 begann Ungarn, neben Polen das einzige dem Beispiel Michail Gorbatschows folgende und Reformwillen zeigende Land des Ostblocks, mit dem Abbau seiner Grenzanlagen im Westen. Von Patrouillen gefasste ostdeutsche Flüchtlinge wurden auch nicht mehr an die DDR ausgeliefert. Im Eisernen Vorhang war eine erste Bresche entstanden. In der Folge wurden ostdeutsche Ungarn-Urlauber, die in der deutschen Botschaft in Budapest Zuflucht suchten oder in Sammellagern ausharrten, zur Vorhut für die Erzwingung massenhafter Ausreisen.

Wegen Überfüllung mussten im August und September die deutschen Botschaften im Osten eine nach der anderen für den Publikumsverkehr gesperrt werden. Mit Abstand am brisantesten entwickelte sich die Lage in Prag. Am 11. September öffnete Ungarn für DDR-Bürger die Grenze zum Westen. Daraufhin schloss die ČSSR - das Transitland in die Freiheit – für DDR-Bürger die Grenzen zu Ungarn. Damit wuchs der Druck auf die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau. In Polen sorgten karitative polnische Organisationen für Ausweichquartiere. Dort war keine Auslieferung von Flüchtenden an die DDR zu befürchten. In der ČSSR dagegen bot einzig die westdeutsche Botschaft sichere Zuflucht. Deren Leiter, Hermann Huber, wies deshalb nach vorübergehender Schließung niemanden mehr ab.

"Wir haben Zelte aufgestellt, richteten ein medizinisches Behandlungszimmer ein, kauften Lebensmittel in großem Umfang. Am 30.9. zählten meine Mitarbeiter über 5000 Menschen in der Botschaft."

Am Morgen des 30. September 1989 erfuhr der damalige westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse um Unterstützung gebeten hatte, dass die DDR-Führung der Ausreise unter der Bedingung zustimmte,

" ... dass die Züge über das Gebiet der DDR, allerdings ohne Aufenthalt, fahren und dass dann im Zug die Stempelung vorgenommen wird"."

Noch am selben Tag kam Genscher in Begleitung einer Reihe hochrangiger Bonner Beamter in die Prager Botschaft. Vom Balkon des Palais Lobkowicz aus wandte er sich an die zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissenen Flüchtlinge, die sich durch keinerlei Versprechungen mehr zu einer Rückkehr in die DDR bewegen lassen würden.

" "Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ... " (tosender Jubel)"

Doch es blieb nicht bei dem Jubel. Denn dadurch, dass die DDR-Führung eine direkte Ausreise von Prag nach Bayern abgelehnt und außerdem Genscher die Mitreise verboten hatte, gab es ein Problem:

" "Es ging darum, die Menschen, die dort vor mir standen und saßen, zu überzeugen, dass es notwendig war, den Zug zu besteigen zur Fahrt durch die DDR. Die allen bekannte Fernseh- und Rundfunk-Aufnahme von der Mitteilung, dass der Weg frei ist, gibt nicht die ganze Rede wieder. Es gibt ja eine Stelle, wo ich dann sage, dass die Züge durch die DDR fahren, wo es viele Zwischenrufe und Nein-Rufe gab, weil die Menschen Sorge hatten."

Jeder der sechs Sonderzüge wurde deshalb von zwei hohen westdeutschen Beamten als Bürgen für die Sicherheit der Flüchtlinge begleitet. Auch die 800 DDR-Bürger, die in Warschau ausgeharrt hatten, konnten nun ausreisen. Wie das Regime seine Bürger verabschiedete, zeigt exemplarisch der Bericht von Frank Elbe, einem der westdeutschen Begleiter:

"Der Zug hält schließlich in Reichenbach. Das Bahnhofsgelände ist hermetisch von der Bahnpolizei abgesperrt. Etwa hundert Beamte der Staatssicherheit betreten den Zug. Sie gehen jeweils in Dreiergruppen in ein Abteil und nehmen den Menschen nach einem absurden System die Ausweise ab: Der erste nimmt den Ausweis ab, der zweite guckt hinein und der dritte steckt ihn in einen schwarzen Koffer."

Doch auch dieser als "einmaliger humanitärer Akt" deklarierte Exodus hatte keineswegs die von der DDR-Führung erhoffte Ventilfunktion. Der unaufhaltsame Strom der Flüchtenden und das immer energischere Auftreten oppositioneller Gruppen im Inneren, die Reformunfähigkeit der DDR-Führung und der Wegfall jeglicher Unterstützung durch kommunistische Nachbarstaaten führten schließlich am 9. November zum Fall der Mauer. Da hatte bereits eine andere Dynamik begonnen - die der Vereinigung der beiden Deutschlands in einer postkommunistischen Welt.