Mitten aus dem Leben

Von Susanne Burg · 11.02.2013
Eine bewohnte Bauruine in Venezuela, ein syrisches Flüchtlingscamp in Jordanien und ein Mann, der eine Beziehung mit einer Sexpuppe führt: 27 Filme sind im Wettbewerb der Berlinale Shorts zu sehen - vor allem die Dokumentationen können überzeugen.
Ein riesiges Gebäude, 45 Stockwerke hoch, das drittgrößte Haus der Welt. Es liegt in Caracas in Venezuela. 700 Familien leben hier. Blumentöpfe stehen auf einem Fenstersims, eine Wäscheleine ist aufgespannt. Allerdings hat das Fenster keine Scheiben, die Mauern sind noch nicht einmal verputzt, teilweise gibt es gar keine Mauern. Das Gebäude ist eine Bauruine.

"Wir haben einfach Zelte hier reingestellt. Es sieht ein bisschen aus wie auf einem Campingplatz", sagt ein Mann. Zu sehen ist der Mann nicht. Der Kurzfilm "Una Ciudad en Una Ciudad" zeigt nicht einzelne Schicksale, es geht ihm um Strukturen, um größere Zusammenhänge. Darum, was Besitz eigentlich ist und wie viel Recht jeder einzelne hat, sich in einem Land ohne Sozialsystem einfach etwas zu nehmen. Der Film ist einer der zahlreichen Dokumentarfilme im Programm der diesjährigen Berlinale Shorts. Die Sektionsleiterin Maike Mia Höhne versucht, eine Erklärung dafür zu finden:

"Ich glaube, dass Dokumentarfilme das Format sind, was am ehesten Lebensumständen nahe kommt, wo man sich noch mal auf eine sehr eigene Art dem annähern kann. Das Fernsehen erfüllt diese Aufgabe wenig. Und das Interessante ist, dass innerhalb dieser Dokumentarfilme die Themen wahnsinnig fein angenommen und bearbeitet werden."

"The Waiting" heißt der Film von Mario Rizzi. Der 50-jährige Italiener hat wochenlang in einem syrischen Flüchtlingscamp in Jordanien gelebt, hat hier gewohnt und langsam das Vertrauen der Menschen gewonnen. Der Film zeigt immer wieder viele Menschen, Zelte und neue Container, die aufgestellt werden.

"Mal sehen, wie’s uns in einem Container ergehen wird", sagt eine Frau, um sie herum eine Sandwolke.

Auch ins Innere der Zelte geht er mit. Frauen putzen, setzen ihren eigenen Joghurt an, fragen sich, wie es wohl um ihre Wohnung in Syrien bestellt ist. Es ist ein Leben in der Schwebe, wartend, und doch voller Alltag. Mario Rizzi beobachtet in langen Einstellungen, so dass sich auch für den Zuschauer die Zeit zu dehnen scheint.

Mario Rizzi: "”Wenn man die Menschen fragt, worauf sie warten, gibt dir jeder die gleiche Antwort: dass Assad geht und sie zurück nach Syrien können. Aber das andere ist das Warten auf kleine Dinge. Auf Kinderkleidung. Auf das Essen. Auf etwas, über das sie lachen können. Manchmal sieht man aber Frauen einfach auch nur am Zeltrand stehen. Sie warten, dass etwas Überraschendes passiert, das ihre Situation ändert. Und gleichzeitig haben sie Angst, dass sie sich an dieses Leben gewöhnen.""

27 Filme nehmen am Wettbewerb der Berlinale Shorts teil. Animationen sind dabei, Spielfilme, mal experimenteller, mal klassisch erzählt, aber die Dokumentationen sind die eigentliche Stärke des diesjährigen Wettbewerbs. Auch der 20-Minüter "Die Traumfrau" gehört dazu.

Der Schweizer Filmemacher Oliver Schwarz zeigt Dirk H., der mit einer Silikonpuppe lebt, Jenni. Er badet und bettet, pudert und kämmt sie. Und er hat Sex mit ihr.

"Es ging am Anfang schon um Gemeinsamkeit und dass jemand da ist. Dass es dann diese Dimension annimmt, hätte ich nicht gedacht."

Nie führt der Film den Mann vor, nie ist er voyeuristisch. Stück für Stück entfaltet sich das Porträt eines Mannes, der nie eine glückliche Beziehung hatte und nun seinen Frieden gefunden hat. Monatelang hat sich Oliver Schwartz immer wieder mit Dirk H. getroffen, mit ihm gesprochen und ihn gefilmt.

Oliver Schwartz: "Mit all den Umständen, die passieren im Alltag, habe ich das Gefühl, dass es für ihn eine Rettung war. Es ist ein sehr intimes, persönliches Porträt über einen Mann, der im Leben nicht mehr zurecht gekommen ist und der keine Liebe mehr empfangen und geben konnte und jetzt in dieser Puppe das wiedergefunden hat."

Man merkt: Die Kurzfilmer haben sich immer genau überlegt, was sie wollen, eine eigene Dramaturgie gefunden. Viele beobachten mit etwas Abstand und Behutsamkeit, lassen den Personen ihren Raum - und scheinen so umso präziser hinschauen und eine differenzierte Portion Leben einfangen zu können.