Mittelalterliche Neuordnung Europas
Karl der Große gehört zu den bedeutendsten Gestalten des Mittelalters. Alessandro Barbero zeigt in seinem Buch "Karl der Große", wie das Herrschaftssystem in karolingischer Zeit funktionierte und wie Karl ein Reich schuf, das bis heute die Geschichte Europas bestimmt.
1,92 Meter maß er. Das haben Berechnungen nach der Öffnung seines Grabes 1861 ergeben. Er war ein Mann von exzessiver Selbstsicherheit, "kaum fähig, sich selbst Grenzen zu setzen", und einer, der "so gern in der Öffentlichkeit sprach, dass sogar sein ehrerbietiger Biograph sich veranlasst sah, ihn als ein wenig zu redselig zu bezeichnen".
Kaum eine Person des frühen Mittelalters hat so sehr die Aufmerksamkeit und Neugier der Nachwelt auf sich gezogen wie Karl der Große. Auch Alessandro Barbero, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität in Vercelli, versucht, ein möglichst lebensnahes Bild dieses fränkischen Königs zu zeichnen, der es als vermeintlicher Barbar aus den Wäldern nördlich der Alpen schaffte, ein neues Kaisertum zu begründen.
Barbero erzählt die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg Karls – die Geschichte unablässiger Kriege, von Eroberungen, Aufständen und deren Niederwerfung, die schließlich in die Kaiserkrönung des Jahres 800 mündete. Diese Geschichte ist vielfach erzählt worden. Doch Barbero beschränkt sich nicht auf die Nacherzählung. Viel mehr Aufmerksamkeit widmet er der Darstellung der Lebenswelt jener Zeit, in der die Grundlagen für die mittelalterliche Entwicklung Europas gelegt wurden. Im Vordergrund steht dabei die Sphäre der weltlichen und kirchlichen Macht, nur am Rande spielt die Frage eine Rolle, die er im letzten Viertel seines Buches etwa so formuliert: Wie sah das Leben der Bauern aus, auf deren harter Arbeit das gesamte Wirtschaftssystem des Abendlands letztlich beruhte?
Vor allem versucht Barbero zu erklären, wie das Herrschaftssystem in karolingischer Zeit funktionierte und wie Karls Erfolg möglich war. Manche glaubten, die Erfindung des Steigbügels sei das Geheimnis gewesen. Doch Barbero hält diese Erklärung für zu einfach. Vielmehr habe der Frankenkönig den wachsenden Wohlstand seiner Zeit klug genutzt, um die Ressourcen des Reiches zu vergrößern. So gab es mehr Pferde, die in den Feldzügen eingesetzt werden konnten, und die Kavallerie (der Name kam damals gerade auf) wurde immer wichtiger für die Kriegführung. Zudem erwies sich Karl als überaus begabter Heerführer, der Eroberungswillen und imperialistische Visionen mit strategischem Geschick und bemerkenswerter Lernfähigkeit verband, wenn er Niederlagen erlebte. Ein ums andere Mal warfen die Sachsen ihn und seine Statthalter zurück – bis er sich eine neue Strategie ausdachte, sich im Winter nicht wie üblich ins Stammland zurückzog, sondern in Feindesland blieb, im weiten Umkreis die sächsischen Stützpunkte verwüstete und damit die Ressourcen seiner Gegner zerstörte. Im nächsten Frühjahr ritt Herzog Widukind durch sein zerstörtes Heimatland und hatte nun keine Chance mehr gegen die Streitmacht des Frankenkönigs.
Karls wichtigste Stütze war die christliche Kirche. Er selbst verstand sich als christlicher König in der Nachfolge Davids. Sein ganzer Tageslauf war von diesem Selbstverständnis geprägt: vor dem Ankleiden die Frühandacht, am Ende des Vormittags Besuch der heiligen Messe, zum Tagesausklang die Abendmesse. Mit "fast mönchischem Eifer" habe Karl täglich die liturgischen Feiern besucht, berichtet Barbero. Der Anspruch, nach göttlichem Willen zu handeln, war die wohl wichtigste Grundlage für Karls Durchsetzungskraft. Bischöfe, Äbte und Theologen gehörten zu seinen Stützen und dominierten seine persönliche Umgebung.
Je größer seine Erfolge wurden, desto klarer war Karl ein unumschränkter Herrscher in seinem immer weiträumigeren Reich. Doch das heißt nicht, dass er wie ein absolutistischer Monarch regieren konnte. Er war an die Zustimmung des fränkischen Volkes in der Reichsversammlung gebunden, betont Barbero, und auch die Ansprüche der Kirche beschränkten Karl.
Das bekam er schmerzhaft in seinem persönlichen Lebenswandel zu spüren. Als sinnenfreudiger Mann mochte er sich nach altem fränkischem Brauch nicht mit einer einzigen Ehefrau begnügen, sondern unterhielt selbstverständlich "illegitime" Beziehungen. Illegitim nicht in den Augen der Franken, aber in den Augen der Kirche. Deren moralischer Einfluss nahm im Laufe seiner Regentschaft so sehr zu, dass er mehr und mehr darauf Rücksicht nehmen musste. Ganz verzichtet hat er auf die außerehelichen Freuden allerdings nicht.
Alessandro Barbero erzählt dies in einer einfachen, klaren Sprache, er reflektiert zugleich die wissenschaftliche Literatur, die über Karl erschienen ist und bewertet die schriftlichen Quellen (wie die Karlsvita Einhards), die zumeist eher als literarische Zeugnisse zu lesen sind.
Besonders reizvoll ist Barberos im Original bereits im Jahr 2000 veröffentlichtes und nun übersetztes Werk aber aus einem anderen Grund: Die deutsche Geschichtsschreibung konzentriert sich zumeist auf Karl den Großen und die Sachsen.
Barbero indes erzählt die Geschichte aus italienischer Sicht – und daraus ergeben sich andere Perspektiven. So nimmt die Eroberung des Langobardenreiches einen viel größeren Stellenwert ein. Vor allem aber schildert Barbero die Geschichte der Kaiserkrönung Karls nicht aus der Perspektive des fränkischen Königshofes, sondern erst einmal aus der Sicht des in Rom residierenden Papstes.
Barbero macht dadurch deutlich, welch ein großer Schritt es für das geistliche Oberhaupt in Rom war, einen Mann zum Schutzherrn und Kaiser zu machen, dem für traditionsbewusste Römer trotz aller Erfolge wohl eher der Ruch des Barbarischen anhaftete.
Köstlich, wie Barbero Karls Kleidungsgewohnheiten beschreibt: traditionell fränkisch schmucklos, bar jeder Eleganz; nur auf inständiges Bitten der Päpste ließ er sich bei zwei Rombesuchen dazu bewegen, die elegante römische Kleidung anzuziehen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Römer auf diesen Mann aus dem Barbarenland geschaut haben…
Ein wenig zu kurz kommt in dem Buch der programmatische Untertitel: Barbero stellt Karl den Großen als "Vater Europas" vor. Er lässt die nationalistische alte Geschichtsschreibung, die Karl als Franken oder Germanen sehen wollte, hinter sich, wirft die interessante Frage auf, ob die Antike vielleicht erst nach der Karlsherrschaft zu Ende gehe, aber er setzt sich nur relativ knapp mit diesem Gedanken auseinander.
Seine Kernthese klingt dennoch plausibel: Karl habe den politischen Raum Europas neu geordnet. Während die Römer ihre Herrschaft um das Mittelmeer herum aufbauten, errichtete Karl das zentraleuropäische Reich und schuf damit politisch und in den Wirtschaftsbeziehungen eine Ordnung, die die Geschichte Europas bis heute bestimmt.
Rezensiert von Winfried Sträter
Alessandro Barbero: Karl der Große. Vater Europas
Übersetzt von Annette Kopetzki
Klett-Cotta, Stuttgart 2007
452 Seiten, 32,00 Euro
Kaum eine Person des frühen Mittelalters hat so sehr die Aufmerksamkeit und Neugier der Nachwelt auf sich gezogen wie Karl der Große. Auch Alessandro Barbero, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität in Vercelli, versucht, ein möglichst lebensnahes Bild dieses fränkischen Königs zu zeichnen, der es als vermeintlicher Barbar aus den Wäldern nördlich der Alpen schaffte, ein neues Kaisertum zu begründen.
Barbero erzählt die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg Karls – die Geschichte unablässiger Kriege, von Eroberungen, Aufständen und deren Niederwerfung, die schließlich in die Kaiserkrönung des Jahres 800 mündete. Diese Geschichte ist vielfach erzählt worden. Doch Barbero beschränkt sich nicht auf die Nacherzählung. Viel mehr Aufmerksamkeit widmet er der Darstellung der Lebenswelt jener Zeit, in der die Grundlagen für die mittelalterliche Entwicklung Europas gelegt wurden. Im Vordergrund steht dabei die Sphäre der weltlichen und kirchlichen Macht, nur am Rande spielt die Frage eine Rolle, die er im letzten Viertel seines Buches etwa so formuliert: Wie sah das Leben der Bauern aus, auf deren harter Arbeit das gesamte Wirtschaftssystem des Abendlands letztlich beruhte?
Vor allem versucht Barbero zu erklären, wie das Herrschaftssystem in karolingischer Zeit funktionierte und wie Karls Erfolg möglich war. Manche glaubten, die Erfindung des Steigbügels sei das Geheimnis gewesen. Doch Barbero hält diese Erklärung für zu einfach. Vielmehr habe der Frankenkönig den wachsenden Wohlstand seiner Zeit klug genutzt, um die Ressourcen des Reiches zu vergrößern. So gab es mehr Pferde, die in den Feldzügen eingesetzt werden konnten, und die Kavallerie (der Name kam damals gerade auf) wurde immer wichtiger für die Kriegführung. Zudem erwies sich Karl als überaus begabter Heerführer, der Eroberungswillen und imperialistische Visionen mit strategischem Geschick und bemerkenswerter Lernfähigkeit verband, wenn er Niederlagen erlebte. Ein ums andere Mal warfen die Sachsen ihn und seine Statthalter zurück – bis er sich eine neue Strategie ausdachte, sich im Winter nicht wie üblich ins Stammland zurückzog, sondern in Feindesland blieb, im weiten Umkreis die sächsischen Stützpunkte verwüstete und damit die Ressourcen seiner Gegner zerstörte. Im nächsten Frühjahr ritt Herzog Widukind durch sein zerstörtes Heimatland und hatte nun keine Chance mehr gegen die Streitmacht des Frankenkönigs.
Karls wichtigste Stütze war die christliche Kirche. Er selbst verstand sich als christlicher König in der Nachfolge Davids. Sein ganzer Tageslauf war von diesem Selbstverständnis geprägt: vor dem Ankleiden die Frühandacht, am Ende des Vormittags Besuch der heiligen Messe, zum Tagesausklang die Abendmesse. Mit "fast mönchischem Eifer" habe Karl täglich die liturgischen Feiern besucht, berichtet Barbero. Der Anspruch, nach göttlichem Willen zu handeln, war die wohl wichtigste Grundlage für Karls Durchsetzungskraft. Bischöfe, Äbte und Theologen gehörten zu seinen Stützen und dominierten seine persönliche Umgebung.
Je größer seine Erfolge wurden, desto klarer war Karl ein unumschränkter Herrscher in seinem immer weiträumigeren Reich. Doch das heißt nicht, dass er wie ein absolutistischer Monarch regieren konnte. Er war an die Zustimmung des fränkischen Volkes in der Reichsversammlung gebunden, betont Barbero, und auch die Ansprüche der Kirche beschränkten Karl.
Das bekam er schmerzhaft in seinem persönlichen Lebenswandel zu spüren. Als sinnenfreudiger Mann mochte er sich nach altem fränkischem Brauch nicht mit einer einzigen Ehefrau begnügen, sondern unterhielt selbstverständlich "illegitime" Beziehungen. Illegitim nicht in den Augen der Franken, aber in den Augen der Kirche. Deren moralischer Einfluss nahm im Laufe seiner Regentschaft so sehr zu, dass er mehr und mehr darauf Rücksicht nehmen musste. Ganz verzichtet hat er auf die außerehelichen Freuden allerdings nicht.
Alessandro Barbero erzählt dies in einer einfachen, klaren Sprache, er reflektiert zugleich die wissenschaftliche Literatur, die über Karl erschienen ist und bewertet die schriftlichen Quellen (wie die Karlsvita Einhards), die zumeist eher als literarische Zeugnisse zu lesen sind.
Besonders reizvoll ist Barberos im Original bereits im Jahr 2000 veröffentlichtes und nun übersetztes Werk aber aus einem anderen Grund: Die deutsche Geschichtsschreibung konzentriert sich zumeist auf Karl den Großen und die Sachsen.
Barbero indes erzählt die Geschichte aus italienischer Sicht – und daraus ergeben sich andere Perspektiven. So nimmt die Eroberung des Langobardenreiches einen viel größeren Stellenwert ein. Vor allem aber schildert Barbero die Geschichte der Kaiserkrönung Karls nicht aus der Perspektive des fränkischen Königshofes, sondern erst einmal aus der Sicht des in Rom residierenden Papstes.
Barbero macht dadurch deutlich, welch ein großer Schritt es für das geistliche Oberhaupt in Rom war, einen Mann zum Schutzherrn und Kaiser zu machen, dem für traditionsbewusste Römer trotz aller Erfolge wohl eher der Ruch des Barbarischen anhaftete.
Köstlich, wie Barbero Karls Kleidungsgewohnheiten beschreibt: traditionell fränkisch schmucklos, bar jeder Eleganz; nur auf inständiges Bitten der Päpste ließ er sich bei zwei Rombesuchen dazu bewegen, die elegante römische Kleidung anzuziehen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Römer auf diesen Mann aus dem Barbarenland geschaut haben…
Ein wenig zu kurz kommt in dem Buch der programmatische Untertitel: Barbero stellt Karl den Großen als "Vater Europas" vor. Er lässt die nationalistische alte Geschichtsschreibung, die Karl als Franken oder Germanen sehen wollte, hinter sich, wirft die interessante Frage auf, ob die Antike vielleicht erst nach der Karlsherrschaft zu Ende gehe, aber er setzt sich nur relativ knapp mit diesem Gedanken auseinander.
Seine Kernthese klingt dennoch plausibel: Karl habe den politischen Raum Europas neu geordnet. Während die Römer ihre Herrschaft um das Mittelmeer herum aufbauten, errichtete Karl das zentraleuropäische Reich und schuf damit politisch und in den Wirtschaftsbeziehungen eine Ordnung, die die Geschichte Europas bis heute bestimmt.
Rezensiert von Winfried Sträter
Alessandro Barbero: Karl der Große. Vater Europas
Übersetzt von Annette Kopetzki
Klett-Cotta, Stuttgart 2007
452 Seiten, 32,00 Euro