Mitsuko Uchida: Ein Orchester von wahnsinniger Qualität

Mitsuko Uchida im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.02.2009
Die in London lebende Pianistin Mitsuko Uchida freut sich auf die Berliner Philharmoniker. Die Qualität des Orchesters sei schon immer außerordentlich hoch gewesen. Noch vor 20 Jahren habe sie sich dort angesichts der großen Namen kaum aufzuschauen gewagt. Auf eine glamouröse Karriere wie bei ihrem chinesischen Kollegen Lang Lang legt die Japanerin keinen Wert.
Joachim Scholl: Sie gehört in ihrem Fach zu den Besten der Welt, die Pianistin Mitsuko Uchida. Geboren in Tokio, hat sie ihre musikalische Ausbildung in Wien erlebt, und vor allem mit den Komponisten der verschiedenen Wiener Schulen ist sie berühmt geworden – Mozart, Beethoven, Arnold Schönberg und Anton von Webern. Aber auch ihre Einspielung der Schubert-Klaviersonaten und der Etüden von Claude Debussy haben Kritiker wie Publikum begeistert. Mitsuko Uchida lebt in London, jetzt aber ist sie "Pianist in Residence" bei den Berliner Philharmonikern. Seit einigen Tagen ist sie für Konzerte in der Stadt, und wir hatten gestern die Möglichkeit, Mitsuko Uchida zu sprechen in der Berliner Philharmonie. Und ich habe sie zuerst gefragt, worauf sie sich bei diesem Zusammenspiel mit einem der weltbesten Orchester am meisten freut.

Mitsuko Uchida: Das ist schwer zu beantworten. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich mit den Berlinern spiele. Die Qualität ist wahnsinnig! Aber inzwischen ist das Orchester auch sehr viel jünger geworden. Und man hat wahnsinnig viel Kontakt mit den Spielern. Und das passiert auch mit manchen anderen großen Orchestern. Wenn man bedenkt, schauen Sie, in Berlin vor 20 Jahren. Da kam man sich vor, also man hatte die Ehre, mit dem Orchester zu spielen. Und man hat ja gar nicht gewagt aufzugucken, also das waren lauter wichtige Musiker da. Und es ist nicht nur, weil ich jünger war, sondern es waren auch andere Zeiten. Und inzwischen ist das Orchester so viel jünger geworden, obwohl die Qualität noch da ist. Es ist eine andere, der Karajan’sche Klang ist nicht mehr. Aber das ist eine wundervolle Klangwelt, was dieses Orchester eigentlich produziert. Und ich freue mich schon so wahnsinnig, und ich freue mich wahrscheinlich auf die Entdeckung des Stückes mit dieser Gruppe, mit diesen Menschen und natürlich mit Simon.

Scholl: Mit Sir Simon Rattle.

Uchida: Ja.

Scholl: Sie proben mit den Philharmonikern das a-Moll-Konzert zurzeit von Robert Schumann. Ihr Durchbruch, Mitsuko Uchida, gelang Ihnen mit Mozart in den 80er-Jahren, Sie haben alle seine Klavierkonzerte eingespielt. Mozart gehörte zur sogenannten Ersten Wiener Schule wie Beethoven, den Sie auch häufig gespielt haben. Ebenfalls Wiener waren Arnold Schönberg und Anton von Webern. Hat diese besondere Wiener Begeisterung eigentlich auch damit zu tun, dass Sie eben in Wien Ihre Ausbildung begonnen haben?

Uchida: Ja, bis zu einem gewissen Grade ja. Aber ich glaube sogar, als ein Kleinkind habe ich gerne Musik von Mozart und Schubert wirklich besonders geliebt, aber auch Schumann, was mit Wien nichts zu tun hat - und das ist erst im Nachhinein. Also der Beethoven ist doch ein Rheinländer, da dürfen'S nicht sagen, also Erste Wiener Schule. Also irgendwo, die Wiener haben ihn eh schon längst adoptiert. Aber das heißt nicht, dass er wirklich ein Wiener war. Ich weiß auch nicht einmal, wer die Erste Wiener Schule ist, weil Mozart ist ja ein Salzburger. Der Vater, Leopold, kam ja aus Augsburg. Der ist also erste Generation Salzburger gewesen, der Mozart, und der hat nur die letzten zehn Jahre seines Lebens in Wien verbracht. Und der wirkliche, echte, einzige große Wiener, das ist der Franz Schubert. Und seine Musik habe ich merkwürdigerweise schon als Kind zutiefst geliebt, obwohl ich sehr wenig Musik in Japan gehört habe als Kind. Und die musikalische Erziehung, also die seriöse musikalische Erziehung hat erst in Wien begonnen mit zwölf Jahren.

Scholl: Es gibt von Ihnen den hinreißenden Satz: "Vielleicht gibt es den lieben Gott, weil Schubert existiert." Das klingt fast nach einer metaphysischen Verehrung seiner Musik.

Uchida: Ich liebe seine Musik, und zwar … Natürlich finde ich den Beethoven, ich halte ihn für einen Größten, und zwar die Größe, die Stärke, die explosive Kraft, seine Vorstellungskraft, die intellektuelle Kapazität und etwas vom Universum was zu verstehen. Er ist nicht nur auf der Erde, er sieht was Größeres. Also so etwas gibt es kaum anderswo. Und Mozart ist auf der Erde oder gleich ein bisschen über der Erde. Aber er ist schon sehr erdverbunden, aber auf diesem Planeten verbunden, mit den Menschen verbunden. Beethoven ist darüber hinaus. Aber der Schubert, mit dem ist die Welt, die Welt der Menschen, die lieben …

Scholl: … und träumen …

Uchida: … träumen, leiden und sterben. Und dieses Letzte, das Sterben, wo der Leiermann schon, wenn man ganz weit hinguckt, dass der Leiermann schon da ganz weit weg steht, und man kann ihn schon sehen. Das ist die Schubert’sche Welt. Und der begleitet alle Menschen, wenn der Mensch weiß, er kommt mit einem Hand in Hand in den Tod, und ohne Angst. Und das ist ganz wundervoll. Aber solche Menschen, also ich weiß nicht, warum mich Schubert so interessiert hat als Kind, weiß ich nicht, aber er hat solche Qualitäten, eine solch transparente, lautere Seele.

Scholl: So, wie Sie das begründen, Mitsuko Uchida, muss man, glaube ich, dann wirklich an Gott glauben, weil er Schubert erschaffen hat. Sie haben mit drei Jahren bereits Klavierunterricht bekommen, aber ihre Eltern hatten nicht unbedingt eine Musikerkarriere vor Augen?

Uchida: Überhaupt keine. Die haben sich nur gefreut, also mein Vater hat sich nur so gefreut, eine begabte Tochter zu haben und so eine Vorzeigetochter. Aber mehr war es nicht.

Scholl: Mit zwölf Jahren, haben Sie schon gesagt, kamen Sie nach Wien. Ihr Vater war japanischer Botschafter damals.

Uchida: Ja.

Scholl: Und wie man hört, war die Wiener Musikakademie gar nicht so geneigt, schon wieder eine Botschaftertochter aufzunehmen.

Uchida: Oh, da haben Sie diese Geschichte gehört. Ja, das ist es gewesen. Wir sind gerade in Wien angekommen, mein Vater dachte, also die Kleine soll mal schauen, dass wir einen Klavierlehrer finden. Wir sind auf die Musikakademie gegangen, und der Präsident, ein gewisser Dr. Sittner, hat meinen Lehrer Hauser angerufen. Und der war sehr grantig, muss ich sagen, und er war im Allgemeinen manchmal grantig. Und mein Vater erzählte mir später, er konnte wirklich beinahe mithören im Telefongespräch: Was, schon wieder eine Botschafterstochter? Die sind ja lauter unbegabte Soundsos, die will ich nicht haben. Und wir sind aber trotzdem hingegangen. Und der hat den Dr. Sittner dann telefonisch noch gleich angerufen: Diese nehme ich aber! Aber warum haben Sie nicht gesagt, diese sei begabt? – Ich weiß nicht, wie begabt ich war, aber auf jeden Fall, so kam es.

Scholl: Ein Weltstar im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur, die japanische Pianistin Mitsuko Uchida. Frau Uchida, Sie haben immer wieder drauf hingewiesen, mehr von den Komponisten gelernt zu haben eigentlich als von den Lehrern.

Uchida: Sicher.

Scholl: Was haben Sie von Mozart gelernt, was von Schubert oder was von Schönberg?

Uchida: Es steht alles geschrieben, und es liegt an uns, ob wir das, was geschrieben steht, verstehen oder nicht. Und um zu entziffern, was die geschrieben haben, das ist die halbe Arbeit von uns. Und man sagt, also man glaubt, Pianist zu sein, da sitze man am Flügel und übt acht Stunden pro Tag. Nein, das ist nur die halbe Arbeit. Und das zu verstehen, kulturell, stilistisch und was die einzelnen Komponisten spezifisch die Tendenz hatten, das so aufzuschreiben, wie sie gedacht haben, was sie am besten vermitteln können, so ist das. Die Komponisten schreiben die Sachen nicht so auf, so dass wir verzweifeln, worum es geht. Also Mozart war ein Profi, und er hat sie aufgeschrieben, sodass ein Orchester seine Partitur spielen kann, also um die Zeit, wo es noch kein Copyright gab. Und der musste ja irgendwie ganz schnell die Noten verteilen, Probezeiten so wenig, wie es geht. Er spielt einmal ein Klavierkonzert durch, sammelt die Noten und geht schon weg. Weil wenn jemand sein ganzes Stück stehlen würde und publizieren, das geht auch. Er hat ja das Recht nicht. Das waren andere Zeiten, das heißt, dass er die Noten aufgeschrieben hat, so wie die Leute, die normalen, mittelmäßigen Orchesterspieler von verschiedener Qualität irgendwie das Stück spielen können, und nicht, dass sie nicht wissen. Man muss davon ausgehen, dass die Komponisten klar genug aufgeschrieben haben. Und so einfach ist das wieder nicht natürlich. Jeder hat dann seine Tricks und seine merkwürdigen Angewohnheiten, aber die muss man dann kennenlernen. Und deswegen tut man ein bisschen nachforschen, autografische Manuskripte ein bisschen studieren, anschauen. Und das hilft schon sehr viel. Und alte Klaviere anschauen, all das.

Scholl: Man kennt es ja von der Literatur, dass sich ein Buch, das man mit 15 liest, ganz anders liest als mit 35. Ist das in der Musik ähnlich? Erzählt Ihnen die Musik auch etwas Neues, anderes, was man vielleicht erst ab einem bestimmten Alter begreifen kann? Wenn Sie auch immer dieselben Stücke wieder spielen, verändern sich die Stücke dadurch?

Uchida: Ja, jedes Mal. Manche Stücke verändern sich mehr als manche anderen. Also besonders verändern tut sich der Mozart. Der verändert sich jeden Tag. Und das ist nicht, dass ich mich geändert habe, er hat sich verändert. Im Beethoven habe ich das Gefühl, er erzwingt mich sowieso, er nimmt einen mit und man muss sich mitreißen lassen, von ihm mitreißen lassen. Und mit Mozart, der hat schon wieder an was anderes gedacht. Und dass das Gleiche da steht, das glaubt man kaum.

Scholl: Zu jedem Pianisten von Weltrang, Mitsuko Uchida, gehört ein spezifisch Persönliches, etwas Unverwechselbares, der eigene Klang. Ab wann hatten Sie Ihren und wie haben Sie ihn entwickelt?

Uchida: Das war eine komplizierte Sache. Das war ein Prozess, ein langer Prozess, muss ich sagen. Ich wusste so um die Zeit, als ich 14 Jahre alt war, dass ich meine Technik entwickeln wollte und nicht die Technik von meinem Wiener Lehrer, dem einzigen Lehrer meines Lebens im Grunde, vom Professor Hauser übernehmen wollte. Er hat irgendwo wunderbar gespielt, er war sehr musikalisch und sehr intelligent, und er hat mich heiß geliebt. Er hat aber meiner Meinung nach damals, und jetzt auch noch, eine sehr steife Technik. Und so wollte ich nicht spielen. Und ich wusste, dass ich damit nicht weit genug kommen würde. Und da kann ich mich erinnern, mit 14 Jahren, dass ich meine eigenen Fingerübungen und die Art und Weise zu entwickeln versuchte. Und es dauerte, sagen wir, 28 war ich da, eines Tages dachte ich, ja, das ist unverkennbar mein Klang, meine Stimme. Man hat die Stimme, die menschliche Stimme, so hat man auch die Stimme auf dem Instrument. Und das glaubt man gar nicht, weil das Klavier halt ein Instrument ist, dass jeder darauf spielt. Aber jeder Mensch hat die eigene Stimme auf dem Instrument. Und diese Stimme hatte ich wahrscheinlich um die Zeit.

Scholl: Ab wann war Ihnen klar, ab wann waren Sie davon überzeugt, die Kunst, das Klavier, das wird mein Leben?

Uchida: Also mit 16 würde ich sagen. Da war die Wahl ganz entschieden. Und zwar ist mein Vater nach Deutschland gegangen, und es war entweder, ich bliebe mit den Eltern zu Hause in Deutschland und würde dann in der Nähe dann studieren und als eine sehr gute Amateur-Pianistin dann irgendwie zu Hause bleiben und freundlichst einen Klavierabend pro Jahr spielen und halt normales Leben führen. Was normal ist, also bitte, das weiß ich nicht, aber das, was die Leute für normaleres halten. Und ich dachte: oder ich gehe nach Wien zurück mit 16 und würde dann als ein Profi-Pianistin, als eine Klavierstudentin Profi zu sein versuchen. Ich wusste ja nicht, was es hieß, Musiker zu sein. Ich habe keine Musiker um mich erlebt, ich kannte keinen. Und es konnte mir auch keiner helfen, aber ich habe mir gedacht, ja bitte, von zwölf bis 16 habe ich mich benommen, als ob ich ein Profi wäre. Und ich habe das doch nicht umsonst getan, und Musik bedeutet sehr viel für mich. Ob aus mir ein Musiker wird oder nicht, wusste ich nicht einmal damals. Aber ich habe gedacht, ich würde wenigstens versuchen. Und so, wahrscheinlich mit 16 Jahren, ist die Antwort.

Scholl: Und wie ist es Ihnen dann auch gelungen, Mitsuko Uchida! Nun ist in der Welt auch der großen Klassik so inzwischen eine Art Popstar-Klima eingezogen. Also Stars werden sehr schnell sehr berühmt. Ein Beispiel wäre Ihr junger Kollege Herr Lang Lang. Man hat aber das Gefühl, dass deren Kunst dann so vom Celebrity-Kult fast zerrieben wird. Sie haben sich immer eher rar gemacht. Warum eigentlich?

Uchida: Ja, nicht nur meine Karriere ist langsamer, aber wirklich unvergleichlich langsamer gewesen. Und was langsam aufgebaut worden ist, kann auch nicht wieder schnell verschwinden. Und ich war alt genug zu wissen, worum es geht im Leben. Und ich liebe die Musik zu sehr, und ich würde mich nicht einfach wegen Geld oder wegen irgendwas, weil der Ruhm mich irgendwie hin- und hertreiben lassen. Und das war mir ziemlich klar und ist mir noch immer sehr klar. Und ich spiele noch immer 50 Konzerte im Jahr. Was auch kommt, ich will viel Repertoire spielen, ich will viel Repertoire studieren. Also zum Beispiel heuer spiele ich Schumann, aber ich spiele heuer, also jedes Jahr, also ist so Wien …

Scholl: Heuer, das ist die Österreicherin in Ihnen.

Uchida: Aber da spiele ich halt noch eine ganze Menge Mozarts und Beethovens, aber ich spiele Schönbergs und Alban Bergs. Und ich habe gerade im Recital auch Boulez und Kurtag usw. Wenn mir diese Zeit nicht bliebe, wäre ich ein armer Musiker. Und das möchte ich nicht werden.

Scholl: Wenn Sie ein Konzert geben, wie jetzt, und es ist eine große Aufführung, das Publikum jubelt, wie lange brauchen Sie hinterher, um wieder auf eine normale Temperatur zu kommen, diese Euphorie auch zu bearbeiten?

Uchida: Auf die Erde wieder runterzukommen? Na ja, ich würde sagen, vier, fünf Stunden. Also das Konzert ist vorbei, ich bin normalerweise in der ersten Hälfte – normalerweise, aber manchmal, wenn man den ganzen Klavierabend spielt, oder manchmal Klavierkonzerte, die spielt man auch am Ende des Konzerts – nun ja, vier Stunden Minimum, fünf Stunden wäre die Wahrheit. Und dann, ja, also bitte, ich trinke zuerst Bier, weil nur Bier löscht den Durst. Alles andere ist zu stark. Und Wasser genügt nicht. Und dann würde ich was essen, weil man ja sowieso vor dem Konzert nicht viel isst, zu Mittag essen ja, aber danach nicht mehr gar so viel. Und dann würde ich am Ende, inzwischen am Ende des Abends, würde ich dann einen Kamillentee trinken, das beruhigt.

Scholl: Mitsuko Uchida, herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihre Konzerte hier in Berlin.

Uchida: Das ist sehr lieb von Ihnen und es hat mir aber auch sehr viel Spaß gemacht, Herr Scholl.

Scholl: Mitsuko Uchida hier im Deutschlandradio Kultur. Wir haben dieses Gespräch aufgezeichnet in der Berliner Philharmonie gestern. Sie ist derzeit "Pianist in Residence" bei den Berliner Philharmonikern. Die Konzerte mit dem Orchester unter Sir Simon Rattle, die finden morgen, am Donnerstag und Freitag statt. Dafür noch Karten zu bekommen, ist leider wohl völlig unmöglich, aber wir haben jetzt Musik, gespielt von Mitsuko Uchida, hier im Programm.