Mitbringsel aus dem Krieg

Heike Groos im Gespräch mit Joachim Scholl · 25.09.2009
Die ehemalige Bundeswehrärztin Heike Groos kritisiert, dass es zu wenig Hilfe für traumatisierte Soldaten gebe. "Man geht relativ halbherzig mit uns um", sagte die frühere Oberstabsärztin, die nach ihrem Einsatz in Afghanistan an posttraumatischen Belastungsstörungen litt.
Joachim Scholl: Immer mehr deutsche Soldaten werden in Afghanistan krank. Sie haben Anschläge, Kämpfe erlebt, mit angesehen, wie Kameraden starben oder wurden selbst verletzt, und sie können diese Erfahrungen nicht verarbeiten, reagieren mit Depressionen, Schlaflosigkeit, Aggression, finden sich nach ihrer Rückkehr in einem normalen Alltag nur schwer zurecht. Eine posttraumatische Belastungsstörung, nennt die Medizin diesen Zustand. Jetzt wurden Zahlen veröffentlicht, wonach die Hilfe für die Betroffenen bei Weitem nicht ausreicht: Auf 4500 Soldaten in Afghanistan komme ein einziger Psychiater, heißt es in einem Expertenbericht. Ich bin jetzt verbunden mit Heike Groos. Sie war als Oberstabsärztin der Bundeswehr mehrfach in Afghanistan, sie hat ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben, es heißt "Ein schöner Tag zum Sterben". Frau Groos, ich grüße Sie!

Heike Groos: Guten Tag!

Scholl: Sie waren im Juni 2003 am Ort des schlimmen Anschlags, als vier Bundeswehrsoldaten starben, haben den Überlebenden dort erste Hilfe geleistet, haben die Toten verstümmelt und in ihrem Blut liegen sehen und danach selbst diese Erfahrung gemacht, dass Sie das Erlebnis verfolgt hat und krank gemacht hat. Wie hat sich das bei Ihnen geäußert?

Groos: Zunächst gar nicht, über eine lange Zeit habe ich gar nichts bemerkt. Und dann, in einer Phase der Ruhe und als ich mich sicher und stabil fühlte, da brach das auf einmal dann über mich herein und ich war ganz, ganz schrecklich traurig. Ich hatte Schmerzen überall, richtig körperliche Schmerzen und war antriebslos, ich konnte mich zu gar nichts aufraffen, ich konnte nicht mal duschen gehen, geschweige denn einkaufen, kochen, das Haus putzen. Und das Schlimmste war eigentlich: Ich konnte keine anderen Menschen um mich ertragen, nicht mal meine besten Freunde. Ich wollte niemand um mich haben, gerade mal meine Kinder, aber mehr nicht.

Scholl: Haben Sie diese Erfahrung dann eigentlich mit dem Erlebnis in Afghanistan sofort in Zusammenhang gebracht?

Groos: Nein.

Scholl: Sie sagten, es hat eine lange Zeit gedauert.

Groos: Genau. Natürlich nicht, ich konnte es gar nicht verstehen, ich war auch gar nicht in der Lage, irgendwie geordnet nachzudenken. Ich merkte nur, mein ganzes Leben stürzte über mir zusammen und ich wusste erst mal auch gar nicht warum.

Scholl: Wie war das damals aber, Frau Groos, direkt nach dem Anschlag? Wurde Ihnen, wurde den Soldaten damals psychologisch geholfen?

Groos: Es gab wohl Angebote, es gab Psychologen, Psychiater, auch Seelsorger, die gab es und die boten alle ihre Hilfe an. Von mir persönlich kann ich sagen, dass ich das nicht angenommen habe und die meisten, die ich um mich hatte, auch nicht, und auch hier kann ich wieder nur für mich sagen: Zum einen war ich, glaube ich, völlig überfordert, mir da selber rauszusuchen, zu wem ich gehen sollte und was ich da sagen sollte, und zum anderen habe ich das auch einfach prinzipiell abgelehnt, weil ich der Meinung war, dass niemand, der da nicht dabei war oder etwas Ähnliches schon mal erlebt hat, mich überhaupt auch nur ansatzweise verstehen kann.

Scholl: Sind Sie und die Soldaten auf eine solche Situation in irgendeiner Weise vorbereitet worden?

Groos: Gar nicht. Ich war nicht vorbereitet darauf und ich habe auch keine Sekunde lang mit irgendetwas dergleichen gerechnet.

Scholl: Wie hat man Sie denn dann wieder aufgerichtet, wenn ich so formulieren darf – ich weiß gar nicht, ob man in diesem Zusammenhang von Heilung sprechen kann –, als Sie dann diesen Zusammenbruch später erlebten?

Groos: Ich glaube, Schulmediziner würden das sicherlich Spontanheilung nennen, weil ich habe keine Therapie gemacht, ich hab keine Tabletten genommen und ich war auch in keinem Krankenhaus kaserniert. Ich habe einfach nur in einer äußeren Sicherheit und mit einem netten Freund, dem ich vertraute und von dem ich glaubte, dass der mich auffangen würde, einfach in dieser sicheren Umgebung mich getraut, alles noch einmal Revue passieren zu lassen, alles noch einmal durchzuerleben und auch zu fühlen.

Scholl: Nun wissen amerikanische Militärs schon lange um das Phänomen dieser posttraumatischen Störung. Die USA haben ihre Erfahrungen in den zwei Irakkriegen entsprechend ausgewertet. Medizinisch ist das schon länger erforscht und beschrieben, dieses Syndrom. Unterschätzt die Bundeswehr diese Gefahr bis heute?

Groos: Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es nicht, aber ja offenbar. Und ich vermute auch ganz stark, dass die Zahlen, die jetzt im Moment durch die Presse gehen, natürlich auch nicht echt sind, sondern dass es eine ganz, ganz große Dunkelziffer geben muss. Ich weiß ja, dass sehr viele Kameraden aus Angst vor Beeinträchtigungen in der Karriere eben nicht die Bundeswehrpsychiater oder -psychologen aufsuchen, sondern privat Hilfe suchen und auch selbst bezahlen.

Scholl: Immer mehr deutsche Soldaten im Afghanistaneinsatz leiden unter posttraumatischen Störungen, wir sind im Gespräch mit der Ärztin Heike Groos. Lassen Sie uns darauf mal zurückkommen: Ärzte beschreiben ja auch das Phänomen, dass Soldaten, die solche furchtbaren Erlebnisse durchleiden, sich erst mal verschließen. Und Sie haben das ja auch von sich selbst beschrieben, Frau Groos, dass Sie eigentlich erst auch gar nicht darüber reden wollten oder mit niemandem darüber reden wollten. Bei Männern ist es vielleicht noch in verstärktem Maße der Fall, man will Härte zeigen, man will kein Weichei sein, das gehört ja auch zur Ideologie des Soldatentums. Haben Sie das auch so erlebt?

Groos: Das sehe ich ganz genauso. Deswegen denke ich auch: Nur mit mehr Psychiatern und mehr Hilfe seitens der Bundeswehr ist es nicht ganz getan, sondern ich glaube, dass auch in unserer gesamten Gesellschaft eine Bewusstseinsänderung stattfinden muss, sodass wir Soldaten das Gefühl haben, man nimmt uns auch als Mensch wahr und wir dürfen diese Dinge auch offen rauslassen, dürfen über diese Dinge sprechen. Auf Deutsch gesagt: Wir dürfen auch weinen, ohne dass es heißt, du bist ein Weichei.

Scholl: Ich meine, die Familien sind in solchem Fall ja auch stark mit betroffen. Oft hört man ja von Heimkehrern, die dann eben diese Störung durchleiden und die Familien sehen da fassungslos zu.

Groos: Natürlich. Die sind ja völlig überfordert, die haben monatelang auf uns gewartet, dass wir heimkommen und uns wieder eingliedern in die Familie, unsere Rolle, die wir dort hatten, wieder übernehmen, und müssen dann erleben, dass wir mit ihnen nicht reden, dass wir tagelang nur rumhängen, sage ich mal so lapidar, und uns anscheinend gar nicht freuen, dass wir wieder zu Hause sind. Das nehmen die persönlich, beziehen es auf sich, und es entsteht eine ganz schwierige Situation.

Scholl: Wenn wir nun lesen, Frau Groos, dass die Zahl der notleidenden Soldaten stetig steigt und dass also auf 4500 Soldaten in Afghanistan jetzt nur ein Psychiater oder ein psychologischer Betreuer kommt, könnte man ja schlussfolgern, dass die Bundeswehr dieses Thema herunterspielt. Hat das vielleicht auch mit der politischen Zögerlichkeit zu tun, mit der man immer das Wort Krieg und Kampfeinsatz vermieden hat, und so ganz auf die Entwicklungshilfe abgestellt hat?

Groos: Na ja, man kann es jetzt nicht beweisen, aber die Vermutung liegt ja ganz nahe. Das sind Dinge, die ungern zugegeben werden natürlich. Dort ist aber eine Kriegssituation, ob sich jetzt Deutschland völkerrechtlich im Krieg befindet oder nicht. In Afghanistan ist Krieg, unsere deutschen Soldaten befinden sich da und man geht relativ halbherzig mit uns um. Man ist nicht ehrlich mit uns bezüglich des Grundes für diesen Einsatz und man begleitet uns nicht konsequent, man steht es mit uns nicht durch. Man schickt uns hin und lässt uns wieder nach Hause fahren und begleitet uns nicht dabei und steht uns nicht zur Seite.

Scholl: Was würden Sie einem Gremium des Verteidigungsministeriums empfehlen, das Sie fragt, was zu tun ist? Was hilft traumatisierten Soldaten und Soldatinnen wirklich?

Groos: Ich glaube, genau das, was ich vorhin sagte: Akzeptanz in der Gesellschaft, die Einstellung, Soldaten sind auch Menschen, die dürfen auch weinen, die dürfen auch traurig sein, deswegen werden die nicht weich, und dass man uns eben einfach das Gefühl gibt: Wir schicken euch dort hin, wir sind euch dankbar, dass ihr das tut, für unser Land, und wir ziehen es auch mit euch gemeinsam durch, wir stehen euch zur Seite bis zum Ende, auch wenn ihr zurückkommt, bis ihr wieder … bis ihr euch hier wieder zurechtgefunden habt zu Hause.

Scholl: Sie, Frau Groos, haben Ihre Geschichte öffentlich gemacht in dem Buch "Ein schöner Tag zum Sterben". Haben Soldaten eigentlich auf dieses Buch reagiert?

Groos: In unbeschreiblich großer und sehr bewegender Anzahl bekomme ich täglich diese Briefe von Soldaten, die ich mal kannte, noch kenne oder auch noch nie gesehen habe, und die mir alle schreiben: Vielen Dank, vielen Dank, dass Du, dass Sie das öffentlich gemacht haben, ich habe das Buch gelesen und ich habe geweint, das schreiben mir ganz, ganz viele Soldaten. Ich habe geweint und ich finde es gut, dass es jetzt endlich beginnen kann, dass wir darüber reden dürfen. Also, da ist ein ganz, ganz großer Wunsch und ein ganz starkes Bedürfnis nach genau dem, was ich eben sagte: Lasst uns doch bitte auch Menschen sein.

Scholl: Zu wenig Hilfe für traumatisierte Soldaten, das war die Ärztin Heike Groos. Sie war in Afghanistan im Einsatz. Das Buch von Heike Groos "Ein schöner Tag zum Sterben" ist im Krüger Verlag erschienen. Herzlichen Dank, Frau Groos, für das Gespräch und alles Gute!

Groos: Vielen Dank!

Ein Interview mit Frank Eggen, der eine Initiative für traumatisierte Soldaten gegründet hat, finden Sie hier.

Bundeswehr-Website zur Posttraumatischen Belastungsstörung: www.ptbs-hilfe.de/