Mitbestimmung von Jugendlichen

„Schule heute ist ein autoritäres System“

57:33 Minuten
Die achtjährige Anna sitzt mit Maske an einem Tisch und bearbeitet ein Übungsblatt.
Die Politik entscheidet über Schulschließungen, die Meinung der Schüler*innen wird oft übergangen. © picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Von Timo Grampes |
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Schulen auf, Schulen zu, Wechsel- und digitaler Fernunterricht. Wer fragt eigentlich die Schülerinnen und Schüler? Wir! Mit ihnen und den Partizipationsforscherinnen Marina Weisband und Ines Boban diskutieren wir über Demokratie in der Schule.
"Wir bringen Kindern bei, sich in ein autoritäres System zu fügen. Das ist erlernte Hilflosigkeit", sagt die Beteiligungspädagogin Marina Weisband. "Das müssen wir grundlegend ändern." Deshalb hat die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung die Onlineplattform "Aula" entwickelt, ein Beteiligungskonzept, das Jugendlichen Mitbestimmung im Alltag und in der Schule ermöglicht.
"Selbstverständlich ist die Partizipation von Kindern in Deutschland noch nicht: Ausgerechnet in der Schule gibt es große Defizite." Zu diesem Ergebnis kommt die repräsentative World Vision Kinderstudie 2018 der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Kantar Public. Und das, obwohl Partizipation in Deutschland gesetzlich verankert ist: Nicht nur in den Schulgesetzen der Länder, sondern auch über die UN-Kinderrechts- und UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes haben. Auch die Kultusministerkonferenz und das Bundesfamilienministerium geben Empfehlungen zur "Menschenrechtsbildung in der Schule" und "Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen".
Die Praxis sieht oft anders aus: "Durch die erhöhte Öffentlichkeit in den Medien während der Pandemie gibt es zwar viele Gespräche auf Bundesebene und mit den Kultusministerien der Länder", berichtet Dario Schramm, Generalsekretär Bundesschülerkonferenz.
Dario Schramm ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz.
Der Abiturient Dario Schramm ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz.© Blackbirds Visual
Zum allerersten Mal in der Geschichte sei er als Schülervertreter zur Konferenz der Kultusminister eingeladen worden. "Aber das ist meist eher ein Informieren, nachdem die Entscheidungen getroffen worden sind. Keiner fragt mal: Was sind denn Eure Ideen?"

"Schüler mit Behinderungen werden nicht gehört"

Für berufsbildende Schulen komme hinzu, dass auch wenn die Kultusministerien der Länder die Schülervertretung anhörten, zentrale Bereiche bei den Kammern lägen, sagt Mouna Nifer, Landesschülersprecherin für die Beruflichen Schulen in Bayern. In der Frage etwa, ob Prüfungen wegen der Pandemie verschoben oder trotzdem durchgeführt würden, hätten Schüler also keine Stimme. "Schülerinnen mit Behinderungen, die gerade während der Pandemie zusätzliche Förderung brauchen, werden nicht gehört", sagt Nifer, die sehbehindert ist und sich für Inklusion engagiert.
Mouna Nifer, Landesschülersprecherin für die Beruflichen Schulen in Bayern.
Mouna Nifer ist Landesschülersprecherin für die Beruflichen Schulen in Bayern.© Souha Nifer
"Pseudomitbestimmung ist schlimmer als gar keine Beteiligung", findet Marina Weisband. "Denn das erzeugt Frustration" und öffne populistischen Bewegungen wie Pegida und AfD die Tore. Aus ihrer eigenen Erfahrung in der Piratenpartei wisse sie, dass sich das Demokratiewissen an deutschen Schulen meist auf Organigramme beschränke: "Wie man Kompromisse aushandelt, Mehrheiten beschafft, Pressearbeit macht – demokratischer Alltag also – mussten wir uns erst hart und schmerzhaft erarbeiten."

Partizipation unterstützt die Persönlichkeitsentwicklung

In der Schule eingeübte Partizipation sei aber auch jenseits der Demokratievermittlung elementar, sagt Weisband. Die Forscher der World Vision Kinderstudie 2018 schreiben: "Gelebte Mitbestimmung und das Erleben von Selbstwirksamkeit unterstützen eine stabile Persönlichkeitsentwicklung, befähigen zur Übernahme von Verantwortung und fördern die soziale Kompetenz von Kindern."
Trotz der allgemeinen Vorbehalte wie Kontrollverlust, Zeitmangel und Angst vor der Digitalisierung engagierten sich einige Schulen und Lehrer sehr für Partizipation. "Sie verstehen, dass es viele Vorteile bringt: Der Vandalismus geht runter, die Gewalt geht runter und mittelfristig spart das auch viel Arbeit, weil die Lehrer weniger mit dem Bändigen beschäftigt sind", sagt Weisband. "Aber dieses Engagement geschieht nicht wegen, sondern trotz des Systems.
Marina Weisband, Ex-Piratenpolitikerin und Gründerin der  Mitbestimmungsplattform "Aula".
Marina Weisband: „Pseudomitbestimmung ist schlimmer als gar keine Beteiligung.“© Tibor Bozi
Weisband hält das für ein kulturelles Problem: "Das Schulsystem ist so aufgestellt, dass man sehr erfolgreich und mit guten Noten die Schule laufen kann, ohne einmal eine Entscheidung für die Gemeinschaft getroffen zu haben. Da genügen Gesetze nicht. Schule ist heute ein autoritärer Raum."

Statt um Rechte geht es um Pflichten

Dem stimmt Inklusions- und Partizipationsforscherin Ines Boban zu. Sie geht sogar noch weiter: "Wir finden häufig adultistische und diktatorische Muster." In Bezug auf Deutschland zitiert sie den Gründer der demokratischen Schulbewegung, Yacoov Hecht: "Länder, die sich Demokratien nennen, sollten vorsichtig mit diesen Begriff sein, solange eine ihrer zentralen Institutionen nicht wirklich alle mit gestalten lassen."
Boban, die selbst auch als Lehrerin gearbeitet hat, erklärt das mit einem Status quo von Schule, der sich mit der Industrialisierung herausgebildet habe: "Viele Strukturen und vermeintliche Selbstverständlichkeiten sind in Schultraditionen übergegangen und zeigen eine Grundhaltung: Statt um Rechte geht es um Pflichten: Um die Dienstpflicht der Lehrer und die Schulpflicht der Kinder und Jugendlichen. Das fällt uns jetzt auf die Füße." Wenn wir die Kinderrechte ernst nähmen und gemeinsam entscheiden, wie Schule aussehen könne, würden Schuler ihre Rechte auch mehr verteidigen.
Die Partizipationsforscherin Ines Boban.
Ines Boban: „Wir finden häufig adultistische und diktatorische Muster in der Schule.“© Conny Wenk
Diese Analyse kann Dario Schramm aus eigener Erfahrung bestätigen: "Viele Schüler wissen gar nicht, welche Rechte sie haben. Dabei sind wir eine politische Generation, die schnell mobilisieren und einiges erreichen kann, wenn sie will. Das hat Fridays for Future gezeigt."
"Solange wir Schule als Marathonlauf mit vielen aufgestellten Hürden für selbstverständlich halten, und wie Söder während der Pandemie argumentieren, die Schulen müssten offen bleiben, damit die Wirtschaft weiterlaufe und die Kinder aufbewahrt sind, ändert sich nichts an dem Gefühl der Ohnmacht vieler junger Menschen", prognostiziert Partizipationsforscherin Boban.
Stattdessen müsse die Gemeinschaft der Schule als Lebensort in den Blick genommen werden, der jetzt bedeutsam sei. "Wir tun gut daran, die grundmenschliche emphatische Haltung, die sich in Partizipation ausdrückt, nicht durch schulische Muster zu zerstören", so Boban.
"Es wäre ein Riesengewinn, wenn wir die Kinderrechte und zum Beispiel das Spiel als Grundmuster des Lernens sehr ernst nehmen. Und zwar nicht nur in didaktischer Form oder indem wir so tun, als wäre ein Mathetest ein Spiel, sondern in dem wir genau beobachten, wie Kinder in ihrem Alter sich den Dingen nähern wollen."

Literaturangaben:

Ines Boban & Andreas Hinz (Hrsg.): "Inklusion und Partizipation in Schule und Gesellschaft: Erfahrungen, Methoden, Analysen"
Beltz Juventa, Weinheim 2020
398 Seiten, 34,95 Euro

Sabine Gerhartz-Reiter und Cathrin Reisenauer (Hrsg.): "Partizipation und Schule: Perspektiven auf Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen"
Springer VS, Wiesbaden 2020
328 Seiten, 59,99 Euro

Malala Yousafzai: "Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen wollten, weil es für das Recht auf Bildung kämpft"
Knaur, München, 15. Auflage 2014
432 Seiten, 9,99 Euro

Riane Eisler: "Tomorrow’s Children: A Blueprint for Partnership Education in the 21st Century"
Westview Press, Boulder 2021
392 Seiten, ca. 13 Euro

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