Mit subtiler Nüchternheit

Rezensiert von Adolf Stock · 18.08.2006
Wir dachten, unseren Thomas Manns schon sehr gut zu kennen, doch jetzt lohnt es sich noch einmal genau zuzuhören, denn Gerd Wameling hat sich der Novelle "Der Tod in Venedig" noch einmal völlig neu genähert. Ohne Berührungsängste vor einem großen Text, hat er das verborgene Seelendrama der Novelle zeitgemäß, mit einer subtilen Nüchternheit, zur Sprache gebracht.
"Ich muss sagen, dass für mich diese Novelle eine große Entdeckung war, dass ich dachte, so eine klares deutliches Outing eines Menschen, auch dieses Schriftstellers Thomas Mann, das hatte ich nicht mehr so in Erinnerung. Ich hatte es in Erinnerung als eine Spiegelung einer Figur, vielleicht, aber nicht, dass ich immer auch dachte, das ist jetzt er, der sich dort beschreibt."

Schon 1972 hatte Luchino Visconti den Tod in Venedig als Drama eines Outings verfilmt. Im Film wurde aus dem Dichter Gustav Aschenbach der Komponist Gustav Mahler, und seitdem ist seine Musik für Generationen von Kinogängern untrennbar mit der Novelle verbunden, schon weil sich jeder an die unglaublich dichte Eingangsszene erinnert, wo Aschenbach an Bord eines alten schwarz rauchenden Dampfers unter Mahler-Klängen plötzlich im Nebelschleier Venedig erblickt.

"Bei mir war das ja auch so, dass ich diesen Film so phänomenal fand, und das war für mich wie so eine Offenbarung. Ich hatte nur ein ganz verrücktes Erlebnis dann, als ich mich wieder mit der Novelle beschäftigte und mehrmals gelesen hatte und dann den Film noch mal sah, da kam mir der Film schmal vor."

Erst beim Lesen werden die Komplexität und die Vielschichtigkeit der Novelle erlebbar. Wer seinen Thomas Mann kennt, schätzt die Musikalität der Sprache, die subtile Ironie und mitunter die weltgewandte Diktion des Autors. Als Will Quadflieg vor 20 Jahren den Tod in Venedig für die "Deutsche Grammophon" las, konnte man noch einmal in dem Mannschen Wortkunstwerk schwelgen. Es war eine Lesung mit sonorer Stimme und einem prächtig rollendem "R", das als Restgröße impressionistischer Rezitierkunst noch einmal in die Ohren drang. Und vielleicht ist es der größte Verdienst dieser neu produzierten Lesung, dass sich Gerd Wameling an keiner Stelle der subtilen Komplexität der Mannschen Prosa entzieht.

"Ich wollte, dass jede Kurve des Textes abgefahren wird, und dass man sehr genau auch den Bau der Sätze begreift, auch in ihrer Kompliziertheit, und dann am Ende des Satzes zu einem Ergebnis kommt. Also die Sätze sind ja manchmal auch sehr lang. Ich wollte diese Schnelligkeit da rauskriegen, die ich da mal gehört habe, und ich wollte sezieren, wenn man so will, genau betrachten, was mir und einem dort begegnet."

Bei Gerd Wameling kommt die Novelle mit einer frischen Diktion daher, die dem Text alles Antiquierte nimmt. Schon gleich am Anfang, nach einem Sparziergang durch den Münchner Englischen Garten, sieht Gustav Aschenbach auf dem nahen Friedhof einen jungen, etwas blässlichen Mann, dessen Erscheinung ihn völlig verwirrt.

"Eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art schweifende Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne. Ein Gefühl so lebhaft so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, dass er die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen. Es war Reiselust. Nichts weiter. Aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert."

Gerd Wameling stellt das innere Drama eines Künstlers in den Vordergrund. Das macht den Text auch für Leute spannend, die sich von bildungsschweren Gesamtkunstwerken nicht sonderlich beeindrucken lassen. Nein, Gustav Aschenbach ist wie wir, ein getriebener Mensch, der Sehnsüchte hat, und Gustav Aschenbach ist doch auch ganz anders, weil er es mutig wagt, dem Tod ins Angesicht zu sehen.

"Ich dachte, dass man der ganzen Sache eine persönlichere Note geben könnte. Habe dann aber festgestellt, dass der Thomas Mann diese persönliche Note gar nicht so wollte, und ich kam doch mit dem Text wieder in eine betrachtende Distanz. Ich wollte es eigentlich viel herzenswärmer lesen, und ich merkte aber, dass das erst gegen Ende des Romans möglich war, wo diese Katastrophe einsetzt in Venedig und wo die Dramatik sich steigert, habe aber festgestellt, als ich mich drauf eingelassen hatte, dass es sehr leicht von der Hand ging. Ich weiß auch nicht, es war geschrieben wie gesprochen."

Thomas Mann: Der Tod in Venedig
Ungekürzte Lesung von Gerd Wameling
214 Minuten auf drei CDs und einer zusätzlichen MP3-Version
Argon Verlag Berlin, 2006