Mit Rock zu Gott

Von Sabine Müller |
In den USA ist alles etwas größer, auch die Verehrung Gottes. Vor allem im amerikanischen Süden boomen sogenannte Megakirchen, die jede Woche tausende Menschen anziehen. Angeführt werden die Gemeinden von wortgewaltigen Predigern, die wie Stars verehrt werden.
Scott Thumma ist einer der anerkanntesten Megachurch-Experten der USA, er hat eines der Standardwerke zu diesem Thema geschrieben. Thumma datiert den Anfang des Megakirchen-Phänomens auf die 60er- und 70er-Jahre, als alles in den USA immer größer wurde: die Autos, die Häuser, die Einkaufszentren, und auch die Kirchen. Die amerikanische Megakirche von heute hat viele Gesichter: Baptisten, Methodisten, Quäker, Presbyterianer, Konfessionsungebundene - all das findet man vor allem im tiefreligiösen Süden der USA, wo die Mehrzahl dieser Kirchen angesiedelt ist. Der offiziellen Definition nach zieht eine Megakirche mindestens 2.000 Menschen pro Woche an - und es handelt sich um eine protestantische Gemeinde, sagt Scott Thumma.

Die Erfolgs-Geschichte der Ebenezer-Megakirche begann nach ihrem Tiefpunkt Anfang der 80er-Jahre, erinnert sich Melvin Clay, der seit 75 Jahren Mitglied der Kirchengemeinde ist. 1982 war Ebenezer eine sterbende Kirchengemeinde. Im Washingtoner Nobelstadtteil Georgetown gab es kaum mehr afro-amerikanische Einwohner, zum Sonntagsgottesdienst kamen selten mehr als 20 Gläubige und Geld, das marode Kirchengebäude zu renovieren, war nicht vorhanden. Man entschloss sich, die Kirchengemeinde in einen Vorort der Hauptstadt umzusiedeln, wo die Gebäude preiswerter waren und die Bevölkerung mehrheitlich schwarz. Mit 17 Gemeindemitgliedern zog Ebenezer 1983 um, und danach ging alles ganz schnell, erzählt Melvin Clay:

"Kurz nach dem Umzug boten wir schon jedes Wochenende drei Gottesdienste an, viele Gläubige mussten in Nebenräumen Platz nehmen und der Parkplatz war immer überfüllt. Der Pastor einer kleinen Baptisten-Kirche ganz in der Nähe kam eines Sonntags zur Messe und freute sich über seinen ungewöhnlich vollen Parkplatz. Aber als er in die Kirche kam, war niemand dort. Er rief an und bat, die Ebenezer-Gläubigen möchten doch bitte Platz machen für seine Gemeindemitglieder."

Innerhalb der nächsten Jahre wuchs die Ebenezer-Gemeinde von 17 einsamen Mitgliedern auf fast 10.000 an. Wie man das geschafft hat? Melvin Clay sagt, das sei vor allem das Verdienst von Pastor Grainger Browning, der Ebenezer seit dem Umzug führt:

"Ich könnte diesen Mann küssen - und ich verspreche, dass mit mir nichts verkehrt ist. Ich könnte ihn für seine Integrität küssen. Er und seine Frau sind im ganzen Land bekannt und respektiert. Ich kann in Hawaii aus dem Flugzeug steigen und jemand kommt auf mich zu und fragt: Wie geht es Pastor Browning? Egal wo ich bin, man kennt sie."

Die charismatische männliche Führungspersönlichkeit ist typisch für die amerikanischen Megakirchen. Kritiker sagen, vielerorts grenze das schon an Personenkult.

Im Sonntagsgottesdienst der Ebenezer-Kirche ist Pastor Grainger Browning gerade dabei, sich warm zu predigen. Der große, sehnige Mittsechziger mit den eng zusammenstehenden Augen im schmalen Gesicht und dem akkurat gestutzten Rund-Bärtchen steht locker ans Rednerpult gelehnt, statt eines Talars trägt er heute einen einfachen schwarzen Anzug. Browning spricht über Joshua und die Mauern von Jericho, die nach langem Warten vom lauten Ruf der Gläubigen einstürzten. Der "breakthrough", der Durchbruch, er soll auch für die Gemeindemitglieder diesmal wirklich kommen, verspricht Browning:

"Diesmal klappt es mit dem Stipendium, diesmal kommt die Heilung, diesmal schaffen es Eure Kinder, sich von Drogen und Gangs loszusagen, diesmal werdet ihr befördert, diesmal gehören das Haus und das neue Auto euch."

"Amen", "Halleluja" ruft die Gemeinde - es ist nicht zu übersehen, dass dieser Mann die Gabe hat, Menschen mitzureißen. Weil er mit Leidenschaft predigt und weil er mit Gottes Hilfe viel Gutes verheißt – extrem viel. Pastor Browning ruft alle Gläubigen, die an Krebs leiden, nach vorne an den Altar. Egal ob Prostata-, Darm- oder Brustkrebs, der Pastor verspricht: Heute stürzt die Mauer aus Krebs ein.

Ob Krebs oder Gangmitgliedschaft: Pastor Browning, seine Frau und die vielen bezahlten und unbezahlten Mitarbeiter der Gemeinde haben für jede Sorge der Gläubigen ein Ohr und kümmern sich um alle Lebensbereiche. Die amerikanischen Megakirchen legen generell viel Wert auf soziale Arbeit in der Gemeinde. Es gibt spezielle Männer-Abende, eine Frauen-Abteilung, die Pastoren bieten Eheberatung an, Jugendarbeit wird ganz groß geschrieben, die Kirche unterstützt Projekte für Arme und Senioren. Diese ganzheitliche Betreuung und die außergewöhnlichen Gottesdienste ziehen die Menschen teilweise von weit her an, sagt Pastor Browning:

"Zuerst kamen hauptsächlich Menschen aus der direkten Umgebung, aber mittlerweile gibt es Gemeindemitglieder, die jede zweite Woche aus Florida oder North Carolina anreisen. Die meisten Gläubigen wohnen im Umkreis von etwa 35 Kilometern, aber es gibt auch welche, die regelmäßig 80, 90 Kilometer fahren.”"

Dafür bekommen sie einen Pastor, der sich in jedem Gottesdienst bis zur Erschöpfung verausgabt. Denn Pastor Brownings Motto ist: Predige immer, als sei es deine letzte Predigt. Denn irgendwann wird es die letzte sein. Ob vor 17 oder 17.000 Gläubigen - das mache keinen Unterschied.

Mit bis zu 10.000 Besuchern pro Woche trägt Pastor Brownings Kirche die Bezeichnung Megachurch schon zu Recht, aber es geht noch viel, viel größer. In Houston, Texas, begrüßt Pastor Joel Osteen seine Gemeinde - und Millionen von TV- und Internet-Zuschauer, denn der Gottesdienst wird landesweit im Fernsehen übertragen und live im Internet gestreamt. Lakewood Church ist die mit Abstand größte Megakirche der USA, der 46-jährige Pastor Joel Osteen der wohl bekannteste Fernsehprediger. Die nicht konfessionsgebundene Gemeinde zieht mit ihren fünf Gottesdiensten jede Woche mehr als 40.000 Menschen an, bis zu 16.000 gleichzeitig passen in den großen Saal. Oder besser gesagt, die große Arena, denn genau das war das Kirchengebäude früher einmal: eine Sport-Arena. Das merkt man auch sofort, wenn man unten an den Eingangstüren ankommt und erstmal vor drei Rolltreppen und einer gut zehn Meter breiten Freitreppe steht, die auf die Hauptebene des Gebäudes führen und in den großen Saal.

Dicht an dicht ziehen sich Stuhlreihen durch den Innenraum, kriechen die Seitenränge hoch bis in den Oberrang. Die Decke der riesigen Halle ist mit Stoff verkleidet, der einem Wolkenhimmel ähnelt und der von dutzenden Scheinwerfern bunt angestrahlt wird. Die Bühne wird von zwei künstlichen Steinlandschaften mit kleinen Wasserfällen eingerahmt, eine bestimmt vier Meter hohe, goldene Weltkugel dreht sich im Bühnenzentrum, während die Lichtinstallation am Bühnenhintergrund regelmäßig die Farbe wechselt.

Die Soundanlage würde jedem hochkarätigen Rockkonzert alle Ehre machen, der Chor ist 100 Männer und Frauen stark, die Band erstklassig. Wer die "ganz normale" Kirche gewohnt ist, der wird sich vielleicht erstmal schwer tun damit, in dieser riesigen, lauten Umgebung in Gottesdienststimmung zu kommen. Bill Lawrence, der seit fünf Jahren jedes Wochenende nach Lakewood kommt, kennt diese Bedenken:

""Als ich zum ersten Mal hier reinkam, war mein erster Gedanke: Das war mal eine Sport-Halle! Aber das Gefühl ging schnell weg, dank der ganzen Atmosphäre. Man fühlt sich hier tatsächlich wie in einer Kirche."

Aber es ist unbestreitbar: Nicht nur vom Oberrang aus ist Lakewood-Pastor Joel Osteen weit weg, wenn er im perfekt geschnittenen schwarzen Anzug zur Predigt an den Bühnenrand tritt. Erst auf den drei riesigen Leinwänden am Kopfende des Saals kann man sein Gesicht mit dem Dauerlächeln und den dunklen Locken erkennen, das Paisleymuster der lila Krawatte.

Kann bei einer solchen Riesenveranstaltung noch das Gefühl einer echten Kirchengemeinschaft aufkommen, in einem Saal mit tausenden von Menschen, wo der Pastor gar keine Chance hat, alle seine Gemeindemitglieder zu kennen? Sherri Collins-Hetherington, die seit mehr als zehn Jahren begeisterte Lakewood-Gängerin ist, sagt, für sie sei das gar kein Problem. Zusammen mit ihrer Mutter sitzt sie jedes Wochenende in einer bestimmten Ecke der Halle, drum herum immer dieselben Leute – das sei fast wie in einer kleinen Kirchengemeinde, erklärt sie. Und: Es sei erstaunlich, wie viele Gläubige Joel Osteen und seine Frau Victoria persönlich kennen:

"Ich besaß mal einen kleinen Buchladen in einem winzigen Einkaufszentrum. Joel und Victoria kamen zufällig vorbei und wir unterhielten uns. Ein Jahr später kamen sie wieder um zu sehen, ob es mir gut ging, ob sie für mich beten sollten. Es ist erstaunlich, dass sich jemand mit einer so großen Kirche an eine einzelne Person erinnert."

Das ist sicher ein Punkt, der die Faszination des Phänomens Joel Osteen ausmacht: Er predigt vor tausenden von Menschen und die Gläubigen haben trotzdem das Gefühl, dass er sie ganz persönlich anspricht. Man kann es an den Gesichtern der Gottesdienstbesucher sehen, die an seinen Lippen hängen. Es ist eine kunterbunte Truppe, die sich jedes Wochenende einfindet: Männer, Frauen, Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten, Alte, Junge. Für sie alle ist Pastor Joel Osteen der Meister der frohen Botschaft. Bei ihm geht niemand mit einem schlechten Gefühl nach Hause, seine Predigten sind immer positiv:

"Zu viele Menschen denken schlecht über sich selbst. Wenn sie Fehler machen, nehmen sie Gottes Vergebung nicht an, sondern hören auf die anklagende innere Stimme. Die sagt, wie schlecht sie sind, dass sie ihre Diät vermasselt oder die Beherrschung verloren haben. Sie tragen Schuldgefühle und Verachtung mit sich herum. Schuldgefühle zu haben ist wie auf einer Tretmühle zu stehen: man kämpft und ackert, aber gelangt nirgendwo hin."

Das ist eine typische Joel Osteen-Predigt: Die Themen sind nah dran am Leben, nicht zu bibellastig, er selbst beschreibt sich eher als optimistischen Lebenshilfe-Coach denn als Prediger. Genau das mögen seine Anhänger wie Sherri Collins-Hetherington und Bill Lawrence:

"Er ist sehr positiv. Und die Menschen brauchen Hoffnung. Was wir falsch machen, wir wissen doch selbst. Wir brauchen die Hoffnung, dass wir uns bessern können und dass Gott will, dass wir uns bessern."

"Er ist einfach echt. Wenn ihn seine Gefühle übermannen, weint er auch mal. Manche nennen ihn den Wohlfühl-Prediger und das stimmt. Er gibt uns Hoffnung und ohne Hoffnung gibt es keinen Glauben."

Ein amerikanischer Religions-Experte hat mal gesagt: Viele Prediger sagen, dass Gott uns liebt, aber wenn Joel Osteen es sagt, dann glauben wir es.

Lakewood ist nicht nur die größte Megakirche der USA, Lakewood ist ein perfekt vermarktetes Familienunternehmen. Das wird einem spätestens dann klar, wenn Joel Osteen mitten im Gottesdienst Werbung für sein neues Buch macht und wenn man dann den riesigen Buchladen und Geschenkeshop im Kirchengebäude betritt.

Reihe um Reihe Bücherregale mit Titeln von Joel Osteen, Lebenshilfe-Ratgebern und Kinderbüchern seiner Frau Victoria, auch seine Mutter Dodie schreibt fleißig. Daneben gibt es Videos der Gottesdienste, CDs der Lakewood-Band und alles, was die Gläubigen sonst noch so brauchen könnten. Kleine Ledertragetaschen für die persönliche Bibel, Wandkerzenhalter mit Kreuzmotiv, religiöse Kitsch-Malerei in Bonbon-Farben.

Das Auftauchen der Megakirchen hat die religiöse Landschaft der USA in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert, aber was hat der Aufstieg der Megachurches eigentlich für die kleinen, traditionellen Kirchen bedeutet?

In St. Andrews, einer kleinen Presbyterianer-Kirche keinen Kilometer von Lakewood entfernt, eröffnet Pastor Jeff Smith den Sonntagsgottesdienst. Der Mittvierziger, lässig gekleidet in heller Hose, Karohemd und Strickweste, strahlt, als er seine Gemeinde begrüßt. Unglaublich, wie viele früh um neun schon hier sind, sagt er und schaut auf die etwa 100 Menschen, die auf den schmalen Kirchenbänken aus hellem Holz sitzen. Insgesamt ziehen die Gottesdienste von St. Andrews pro Wochen etwa 300 bis 350 Gläubige an. Das ist winzig im Vergleich zu den 40.000 von Lakewood und Pastor Smith sagt, als die Megakirche in der Nachbarschaft einzog, gab es durchaus die Befürchtung, dass Gläubige abwandern könnten:

"Aber wir haben festgestellt, dass Lakewood eine völlig andere Kirche ist als wir. Wer St. Andrews mag, wird Lakewood wahrscheinlich nicht mögen und umgekehrt."

Dass Pastor Smith keine Gemeindemitglieder an die Megakirche verloren hat, überrascht den Religionsexperten Scott Thumma nicht. Es sei ein Vorurteil, dass Megachurches immer negative Auswirkungen auf ihre Umgebung hätten. St. Andrew’s Pastor Smith sagt: Seine Botschaft und die von Pastor Joel Osteen in Lakewood könnten kaum unterschiedlicher sein.

"Joel predigt: Wer Gottes Gnade hat, bekommt Reichtum, Gesundheit, eine Beförderung - all das, was wir uns wünschen. Ich lese die Bibel anders: Gott will, dass wir Opfer bringen und wie Jesus und die Apostel unser Leben anderen widmen. Es geht nicht darum, alles zu bekommen, weil man Gottes Gnade hat."

Was Lakewood angeht, stimmt Megakirchen-Experte Scott Thumma Pastor Smith zu: Hier gehe es tatsaechlich sehr um die Show. Aber er sagt, dass Megakirchen generell nur "Glauben light" anbieten, stimme nicht:

"Viele praktizieren den Glauben sehr ernsthaft, haben hohe Ansprüche an ihre Mitglieder. Die sollen nicht nur Geld bringen, sondern sich ins Kirchenleben und die Gemeinschaft einbringen. Durch die bekanntesten Megakirchen, die wir im Fernsehen sehen, haben wir oft ein verzerrtes Bild."

Die amerikanischen Megakirchen haben ohne Zweifel gesellschaftlichen Einfluss, aber wie sieht es politisch aus? Lakewood-Pastor Joel Osteen wird gerne als "der einflussreichste Christ der USA" bezeichnet, aber über seine politischen Ansichten schweigt er sich meistens aus. Pastor Grainger Browning von der Ebenezer-Kirche in Fort Washington dagegen sagt: Die "schwarze" Kirche war immer auch politisch:

"Die Kirche sollte im Zentrum der Gemeinde stehen und all ihre Bedürfnisse ansprechen, auch die politischen. Ich predige zu den politischen Führern, um sie wissen zu lassen, was unsere Gemeindemitglieder brauchen. Wir nutzen unsere Macht nicht für unseren eigenen Vorteil, sondern um den Menschen eine Stimme zu geben. Meine Frau und ich können Dinge sagen, die andere nicht sagen können, weil sie vielleicht Probleme im Job kriegen könnten. Wir sprechen ohne Angst vor Konsequenzen."

Generell sieht Religions-Experte Scott Thumma den politischen Einfluss der Megakirchen aber eher auf der lokalen Ebene:

"Sie können einen enormen Druck auf die Lokalpolitik ausüben. Ich habe erlebt, dass ein neues Kirchengebäude nicht ganz den Feuerschutzbestimmungen entsprach und der Pastor sagte: Ich habe hier 5000 Wählerstimmen zu vergeben – kriege ich meine Lizenz? Und er kriegte sie. Aber was große Fragen wie zum Beispiel die Abtreibungsdebatte angeht: Da haben die Megakirchen wohl mehr symbolische Macht als echte politische."