Mit Melancholie die Welt retten

Von Anke Schaefer · 09.05.2012
Auf dem diesjährigen Berliner Theatertreffen wird Michel Decars Stück "Jonas Jagow" zu sehen sein. Der Theaterautor wurde in Augsburg geboren. Seit 2010 lebt er in Berlin und studiert an der Universität der Künste Szenisches Schreiben - Berlin liebe und hasse er in gleicher Weise.
Musik: Tocotronic "Luft"

"Wenn die Figur Hamlet Musik hören würde, dann würde sie Tocotronic hören. Hamlet wäre ein großer Fan."

Und auch Michel Decar ist ein großer Fan von Tocotronic. Nicht nur dieser Titel - "Luft" - gefällt ihm, sondern das ganze Album:

"Im kompletten Album 'Kapitulation' geht es um diese Beziehung von Melancholie und Zerstörung und Nichtstun und Nachdenken und Handeln - eigentlich das alte Hamlet Dilemma, das dort aufbereitet wird."

Ein altes, durchgesessenes Sofa mit plüschigen Kissen: Michel Decars Zimmer ist karg. Eine Matratze, gegenüber ein schwarzes Regal mit wenigen Büchern, einen Schrank braucht er nicht. Er hat vor Kurzem radikal ausgemistet und die Zipfel der wenigen Hemden, Hosen und Socken, die er jetzt noch besitzt, lugen aus ein paar Kisten im Regal. Melancholie und Zerstörung - das sind seine Themen.

Der Titelheld in seinem Stück "Jonas Jagow" will Berlin zerstören. Michel Decar, 25 Jahre alt, klappt sein silbernes Labtop auf:

"Jonas Jagow: Das Leben ist lang, furchtbar lang und dann ist es vorbei. Ich frage also, was kann man tun, wenn man zwei Hände besitzt und einen Kopf zum Nachdenken. Also, als ich noch ein kleiner Junge war, da fragte mich jemand, was ich werden will, wenn ich groß bin und ich antwortete, das Universum ist grausam und schlecht.

Also muss es weg. Nur wenn es komplett beseitigt ist, werden alle Probleme gelöst sein. Das also will ich tun. Alle Probleme beseitigen."


Man merkt es diesem großen, sanft wirkenden Mann nicht gleich an, aber: Im Innern ist er selbst richtig wütend. Michel Decar öffnet ein großes, zweiflügeliges Fenster, zündet sich die selbstgedrehte Zigarette an. Von seinem Zimmer - hoch oben aus dem vierten Stock - aus guckt er über den Berliner Stadtteil Alt Moabit.

"Theater muss immer kraftvoll sein und sollte im besten Fall immer Angriff sein und auf etwas zielen und der Bogen muss gespannt sein."

Wogegen aber will Michel Decar seine Pfeile schießen?

"Gegen unfassbar viele Dinge, die mich aufregen. Die unfassbar vielen Ungerechtigkeiten, die einem selber widerfahren aber die auch weltweit existieren und von denen wir wissen.

Das Internet ist so präsent, wir können uns über alles informieren, was in jedem Land dieser Erde stattfindet. Wir haben diese Macht der Information und wir nutzen sie aber nicht."

Michel Decar bläst den Rauch in die Luft und schaut auf Alt Moabit, auf Autos und Menschen. Ein paar Häuserecken weiter verläuft die Jagowstraße - Inspiration für den Nachnamen seines Helden.

"Ich liebe Berlin und hasse Berlin in gleicher Weise. Die deutsche Sprache hat da leider kein Verb erfunden, das beide Verben lieben und hassen adäquat auf den Punkt bringen würde."

Aus Ostberlin ist Michel Decars Vater einst geflohen, um nicht hinter der Mauer leben zu müssen. Der Vater ging nach Bayern und Michel Decar wird am 8. April 1987 in Augsburg geboren. 2010 zieht er in die Stadt seines Vaters, um an der Universität der Künste Szenisches Schreiben zu studieren.

"Eigentlich bin ich Anfänger, was das Schreiben angeht, eigentlich schreibe ich erst seit vier Jahren und davor habe ich halt Fußball gespielt und mich rumgetrieben."

Musik: "Ich war nicht dabei" / Element of Crime

"Element of Crime" ist neben Tocotronic Michel Decars zweite Lieblingsband. Wie in einem Brennglas sieht Michel Decar den Zustand der postmodernen Welt in Berlin verdichtet: die verschiedenen Lebenswelten, die Relikte der verschiedenen Epochen nebeneinander. Den immerwährenden rasanten Wandel.

"Also es ist Wahnsinn finde ich, ein riesiges Experimentierfeld, das wir hier vorfinden und wir sind alle drin und machen mit und wir können diese Stadt aufbauen oder sie kaputtmachen, so wie wir das mögen."

Michel Decars Held Jonas Jagow kündigt die Zerstörung Berlins immer wieder an, greift aber nicht zur Tat. Und das hat seinen Grund. Die Figur weiß nämlich nicht, wogegen sie sich wenden soll. Da geht es ihr genau wie dem Autor selbst. Die Feinbilder sind unscharf geworden.

"Natürlich kann ich sagen, ich werfe einen Molotow Cocktail in die Hauptzentrale von Coca Cola, weil die nicht gut sind, sondern es sind 'Die Bösen', aber so einfach ist es eben nicht, denn obwohl wir alle wissen, dass Coca Cola nicht der tollste Konzern der Welt ist, trinken wir alle gerne mal einen Schluck Coca Cola.

Und ich habe das selber bestimmt letzte Woche getan, obwohl ich diese Information habe oder glaube sie zu haben, und trotzdem hängen wir da drin und sind in wahnsinnigen Widersprüchen verstrickt."

Man muss trotzdem Widerstand leisten, meint Michel Decar. Und zwar aktiv.

"Es gibt natürlich noch den passiven Widerstand, der sieht so aus, dass ich hier mein Zeug zusammenpacke und in den Wald gehe, und ab jetzt nur noch Beeren und Nüsschen futtere, aber das kann natürlich auch nicht der Sinn der Sache sein, denke ich mal."

Musik: "Ich war nicht dabei" / Element of Crime

Also schreibt Michel Decar. Von Melancholie und Zerstörung. Von Politischem und Privatem. Um sich einzumischen ins postmoderne Chaos. Um mitzumischen. Im Grunde - um die Welt zu retten:

"Wenn ich nicht die Welt retten wollen würde, dann könnte ich gleich aus dem Fenster springen hier - ja, natürlich das meine ich ernst, natürlich. Da kommen wir zu ganz unmittelbaren Schreib- und auch Lebensfragen, denn wozu machen wir denn den Unsinn hier mit? Was soll das denn bitte alles?

Man kann sich irren, man kann im Unrecht sein. Aber man sollte sich bemühen. Man sollte ein Feuer in sich haben und ein Ziel."

Musik: "Ich war nicht dabei" - Element of Crime