Mit Macht nach oben

Von Julio Segador · 20.02.2013
Kaum ein Land steht derzeit so im Blickpunkt wie Brasilien. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele zwei Jahre später in Rio de Janeiro werfen ihre Schatten voraus. Brasilien ist ein Global Player, der sich als weltweit sechst-stärkste Wirtschaftsnation etabliert.
Countdown für ein besonderes Ereignis. Ganz Brasilien blickt in den Nord-Osten des Landes, nach Fortaleza, wo ein Fußballstadion eingeweiht wird. Die Fußball-Arena Castelão ist das erste Stadion, das für den Confederations-Cup und für die Weltmeisterschaft 2014 fertiggestellt wird. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist stolz auf eine Leistung, die den Brasilianern viele nicht zugetraut hatten.

"Viele meinten, wir wären nicht in der Lage, ein Stadion dieser Qualität zu bauen und rechtzeitig zu übergeben. Ein Fußballstadion mit internationalem Standard. Heute haben wir bewiesen, dass wir dazu fähig sind."

Fortaleza ist einer der sechs Spielorte für den CONFED-Cup im Juni 2013. Das Turnier ist die Generalprobe für die WM 2014. Die Bedenken, dass die Stadien für die Turniere nicht rechtzeitig fertig werden, sind weitgehend vom Tisch. Das war nicht immer so. Noch Mitte vergangenen Jahres drohte der Generalsekretär des Weltfußballverbandes FIFA – Jerome Valcke - unverhohlen damit, dem WM-Gastgeber einen Tritt in den Allerwertesten zu geben, damit die Bauarbeiten besser vorangehen. Es kam zu einem Eklat: FIFA-Präsident Joseph Blatter musste bei Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff antreten und sich für seinen Generalsekretär entschuldigen. Ein hilfreicher Eklat. Seither hat der WM-Gastgeber beim Bau der Stadien einen höheren Gang eingelegt. Und inzwischen zeigt sich auch FIFA-Chef Blatter überzeugt, dass Brasilien auf einem guten Weg ist.

"Ich habe nicht nur den Eindruck, sondern bin mir sicher, dass alles rechtzeitig fertig wird. Wir wissen, dass nicht alles perfekt sein wird, aber wo ist schon alles perfekt. Alles wird rechtzeitig konstruiert sein, ich bin mir da sehr sicher."

Brasilien ist im Aufwind. Das Land steht vor einer ganzen Reihe von Großereignissen. Nach dem Confederations-Cup im Juni besucht der neue Papst Rio de Janeiro. Mehr als zwei Millionen Menschen werden in der Stadt am Zuckerhut zum Weltjugendtag erwartet. Im Herbst ist Brasilien Gastland bei der Frankfurter Buchmesse. Parallel dazu präsentiert sich die Bundesrepublik beim sogenannten Deutschlandjahr ein Jahr lang als Kulturnation in dem größten südamerikanischen Land. 2014 geht es weiter. Die Fußball-Weltmeisterschaft im Juli des Jahres wird die Blicke der ganzen Welt nach Brasilien lenken. Mit den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro findet nur zwei Jahre nach der Fußball-WM ein weiteres Sport-Großereignis statt.

Brasilien, der südamerikanische Global Player, steht im Rampenlicht. Das Land hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gründlich gewandelt. Noch Mitte der 80er-Jahre prägten Gewalt, Armut, Hyperinflation und Diktatur den Alltag. Nicht einmal drei Jahrzehnte danach hat sich Brasilien zur sechst-stärksten Wirtschaftsmacht entwickelt, zur südamerikanischen Führungsnation, die mit den USA, mit China und den großen europäischen Ländern selbstbewusst auf Augenhöhe agiert. Auch die Menschen im Land haben Aufwind. Eine neue Mittelschicht hat sich in den vergangenen 10 Jahren gebildet.

Die Elektroabteilung in einem großen Kaufhaus in Sao Paulo. Die Leute stehen vor TV-Geräten, staunen über die Technologie. 55, 60 oder sogar 65 Zoll haben die riesigen Bildschirme. Und es wird gekauft. Brasiliens Mittelklasse konsumiert ohne Unterbrechung. Dass andernorts wegen Finanzkrise und Sparmaßnahmen die Menschen den Gürtel enger schnallen, kümmert hier niemand. Die Kauflust der Brasilianer kennt keine Grenzen. Die neue Mittelschicht leistet sich das, was sie sich noch vor 10 Jahren nicht leisten konnte, berichtet der Verkäufer in der Elektroabteilung.

"Am meisten verkaufen wir Elektro-Haushaltsgeräte, also Kühlschränke, Waschmaschinen, Spülmaschinen, Herde. Also Dinge, die man wirklich braucht. Und dann verkaufen wir natürlich sehr viel hier in der TV-Abteilung. Ich schätze mal, dass das Verhältnis bei 60 zu 40 zugunsten der Haushaltsgeräte liegt."

20 Millionen, manche sprechen sogar von bis zu 30 Millionen Menschen, die in Brasilien in den vergangenen zehn Jahren aus der Unterschicht in die Mittelschicht aufgestiegen sind. Sozialprogramme wie "Bolsa Familia” – eine Art Familienunterstützung für Arme - oder auch die Anhebung des Mindestlohns machten dies möglich. Die Brasilianer haben mehr Geld im Portemonnaie und Staatspräsidentin Dilma Rousseff setzt darauf, dass diese neue Gruppe den Konsum weiter ankurbelt.

"Wir sehen unsere Bürger als Konsumenten. Und zwar als Konsumenten, die nun all die Güter kaufen können, die ihre Familien brauchen, um komfortabler und glücklicher leben zu können."

Freilich ist nicht alles Gold was glänzt. Der Boom der neuen Mittelklasse führte zu einer Aufblähung der Staatsquote, der Dienstleistungssektor wurde massiv ausgeweitet, zudem leistet sich Brasiliens neue Mittelschicht das meiste auf Pump. Viele müssten etwa erst noch lernen, mit Kreditkarten umzugehen, erklärt Wirtschaftsfachmann Eduardo Giannetti da Fonseca.

"Diese neue Mittelklasse ist ein wenig verblendet durch den plötzlichen Zugang zu Krediten und Konsum. Es verwundert auch nicht, denn über lange Zeit konnten sie sich ja keine Wünsche erfüllen. Aber das ist nur eine Phase. Die Menschen müssen nämlich schon bald damit beginnen, an die Zukunft zu denken. Also an Bildung, Sparen, Zukunftsvorsorge. An solche Dinge. Aber das will erst mal gelernt werden."

Derzeit aber kümmert dies kaum jemand dieser neuen Mittelschicht. Zum ersten Mal können sie sich wirklich etwas leisten. Zeit für dunkle Gedanken bleibt da kaum. Nirgends zeigt sich das so deutlich wie in den Favelas, Rios Armenviertel, die ein anderes Gesicht der Stadt zeigen. Walmyr Junior ist einer dieser jungen Brasilianer, die Hoffnung schöpfen. Er lebt in der Favela Rocinha und hofft, in die neue Mittelschicht aufzusteigen.

"Ich bin sehr optimistisch und glaube nicht, dass es bald wieder abwärts geht. Die Arbeitslosigkeit ist stark zurückgegangen, die Bildung wird besser, auch die Kindersterblichkeit nimmt ab. Und viele andere Fakten sind positiv. Ich erwarte viel von einer jungen Generation, die sich anstrengt, studiert, unbedingt etwas erreichen will, die Ideale hat und ihnen nacheifert. Und das gilt für alle, die ihr Leben verändern wollen."

Die Favelas, Rios Armenviertel, sind die traurige, dunkle Seite der "Cidade Maravilhosa", der wundervollen Stadt, wie Rio genannt wird. Fast ein Fünftel der Bevölkerung lebt in den Favelas. Armut, Drogenkrieg und Bandenkriminalität prägen seit Jahren den Alltag in diesen Labyrinthen, die sich an den Hügeln nach oben schlängeln. Doch das Image der Favelas wandelt sich: Denn die Polizei hat damit begonnen, sie zu "befrieden". Die vormaligen No-Go-Areas sind sicherer geworden. Das zieht auch immer mehr Menschen an. Bewohner, Unternehmer, Spekulanten, Touristen und Neugierige. Eduardo Paes ist der Manager des Ganzen. Vor wenigen Monaten wurde er als Bürgermeister von Rio wiedergewählt. Die Cariocas, wie die Einwohner der Stadt genannt werden, vertrauen dem 42-Jährigen mit dem Macher-Image. Der Politiker hat sich auf die Fahnen geschrieben, den schlechten Ruf, den Rio über Jahrzehnte hatte, auszulöschen. Paes spricht den Menschen Mut zu:

"Rio hat sehr lange nicht an seine Zukunft geglaubt. Rio hat sich über Jahre an schlechte Dinge gewöhnt. Und es war grenzwertig zu sehen, dass es Bereiche in unserer Stadt gab, wo der Staat und die öffentliche Gewalt nicht präsent waren und keine Autorität besaßen."

Paes will bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 eine ganze Reihe von Infrastruktur-Programmen vorantreiben und abschließen. Vor allem den Umbau der Hafenregion zu einem modernen Freizeit- und Geschäftsviertel. Zudem soll die Infrastruktur für die WM und Olympia schnellstmöglich fertig gestellt werden - dazu zählen die Autobahn- und die Metroanbindung der Region der Barra da Tijuca, wo das olympische Dorf stehen wird.

Auch das legendäre Maracanã-Stadion ändert sein Gesicht. Im Stadion und auch außerhalb der riesigen Arena bleibt kein Stein auf dem anderen. Das gefällt nicht allen. Und manche, so wie Gustavo Mehl von der Bürgerinitiative "Volkskomitee WM und Olympia", haben ihre Zweifel, ob der steile Aufstieg in Brasilien auch wirklich breiten Schichten zugute kommt.

"Anders als viele Enthusiasten habe ich eher eine pessimistische Vision dieses angeblichen Wachstums in Brasilien und der Richtung, die das Land eingeschlagen hat. Rio ist ja das Schaufenster, eine Postkarte. Die Kultstadt, die man zum Aushängeschild umbaut. Aber die Stadt wächst in eine Richtung, die nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt, die den unteren Schichten keine besseren Lebensbedingungen bietet. Diese Menschen, die das Wachstum am dringendsten gebrauchen könnten, haben eigentlich nichts davon."

Die Schattenseiten des Wachstums sind unmittelbar neben dem Maracanã-Stadion zu sehen. Indios bewegen ihre Körper zu einem traditionellen Kriegertanz. In voller Kriegsbemalung, mit Pfeil und Bogen in den Händen. Der Kriegstanz findet nicht irgendwo in einem entlegenen Reservat im Amazonasgebiet statt, nein, die Indios tanzen mitten in Rio, vor einer verfallenden Villa, die abgerissen werden soll. Einen Steinwurf entfernt von der Baustelle am Maracanã-Stadion. Carlos Tucano beobachtet die tanzenden Indios, blickt dann zur Megabaustelle und macht sich seine Gedanken.

"Für die Weltmeisterschaft geben sie hier eine Milliarde Reais, umgerechnet 360 Millionen Euro aus, und hier investieren sie keinen Cent. Ganz im Gegenteil. Sie wollen für den Abriss sogar eine Menge Geld hinblättern."

Es geht um das alte Indio-Museum in Rio, direkt neben dem Maracanã-Stadion, das seit Jahren verfallen ist, dessen einstige Pracht sich nur noch mit viel Phantasie erahnen lässt. Die zweistöckige Villa aus der Kolonialzeit hat keine Fenster mehr, die Fassade ist heruntergekommen, die Treppen im Inneren des Gebäudes sind baufällig. Carlos Tucano, der zusammen mit rund 50 Gleichgesinnten seit 2006 in dem Camp im Garten des Hauses lebt, hat viel vor mit der Villa:

"Wir haben seit Jahren gefordert, dass das Gebäude wieder aufgebaut werden soll. Es müssen neue Fenster rein, die Fassaden müssen gestrichen werden. Innen sollte eine Menge erneuert werden, Wasser, Elektro, Energie. Es muss alles so erneuert werden, dass man darin gut arbeiten kann. Wir wollen nämlich, dass ein Kulturzentrum und ein Museum unserer indigenen Kultur darin eingerichtet werden. Wir leben nicht nur mit Pfeil und Bogen und ernähren uns von Maniok und Fischen. Wir wollen hier bleiben und den Menschen unsere Kultur zeigen."

Vor Jahren war das alte Museum umgezogen, und das schöne Gebäude verfällt zusehends. Der Bundesstaat Rio de Janeiro, dem das Grundstück gehört, will das an das Maracanã-Stadion angrenzende Areal nun privatisieren. Shopping-Center und Lokale sind geplant. Doch der Gouverneur von Rio machte die Rechnung ohne die Indios. Sie wehren sich erbittert gegen den Abriss. Für den Aktivisten Gustavo Mehl ist der geplante Abriss des Gebäudes nur ein Beispiel in einer langen Reihe von Benachteiligungen ärmerer Bevölkerungsschichten.

"Wir sehen ganz deutlich wie Rio umgestaltet wird in ein Zentrum für Unterhaltung und Tourismus. Dabei werden ganz bestimmte Unternehmer bevorteilt, die dadurch natürlich viel Geld verdienen. Die Immobilienspekulation nimmt zu. Unternehmer sehen ihre Chance, durch Bauprojekte viel Geld zu verdienen. Leider wird dabei gegen eine ganze Reihe von Menschenrechten verstoßen."

Vor wenigen Wochen drohte die Situation zu eskalieren. Schwerbewaffnete Polizisten sollten das Camp rund um das Haus stürmen. Die Indios standen mit ihren Speeren und Bogen bereit. Im letzten Moment kam es zu Verhandlungen. Den Indios wurden Sozialwohnungen angeboten, Carlos Tucano lehnt das ab. Er und die anderen Mitglieder der Indio-Stämme wollen neben dem Maracanã-Stadion ihr Kulturzentrum aufbauen. Und Carlos Tucano macht klar: Er wird sich gegen den Abriss wehren.

"Wir werden Widerstand leisten, aber ohne Gewalt."

So wie Rio boomen viele brasilianische Städte, mit all den damit verbundenen positiven wie negativen Begleiterscheinungen. Das Wachstum, die Erwartungen an die anstehenden Ereignisse, der Optimismus, der breite Schichten der Bevölkerung erfasst hat, all das bringt dieses riesige südamerikanische Land, das so groß ist wie ein Kontinent, zum pulsieren. Und doch bleiben Zweifel und manche, so wie Irene, eine Schmuckhändlerin aus der Favela Rocinha, stehen dem Aufschwung mit gemischten Gefühlen gegenüber. Irene hofft, dass auch sie teilhaben kann am Boom in ihrer Stadt, in ihrem Land.

"Ich mag die Touristen, sie kaufen ja auch was. Aber in letzter Zeit kommen immer mehr, die Preise für alles steigen. Ich sage ja nicht, dass früher alles besser war, aber es scheint, als seien wir in Mode gekommen. Jetzt müssen wir mal schauen, wie wir auch selbst davon profitieren können."
Mehr zum Thema