Mit Kopftuch für die Emanzipation

03.01.2007
Junge Muslime fühlen sich in Deutschland oft missverstanden. Sie sehen sich als Teil der Gesellschaft und wollen sich integrieren, wollen aber gleichzeitig ihre Religion als wichtigen Teil ihrer Identität zelebrieren. Wie die Jugendlichen sich einen "Pop-Islam" zurechtzimmern, um die Widersprüche in ihrem Leben auszutarieren, schildert Julia Gerlach in ihrem Buch "Zwischen Pop und Dschihad".
Der Westen weiß viel zu wenig über die Muslime in seinen Ländern. Das wird beim Lesen von Julia Gerlachs Buch deutlich.

Der Pop-Islam ist eine der modernen Strömungen im Islam, wenngleich keineswegs die neue globale Massenbewegung, wie der Leser möglicherweise meinen möchte, wenn er mit dem Buch beginnt. So wie es schwierig ist, den Islam selbst zu fassen, da er doch in allen Erdteilen, in vielen Ländern unterschiedlich gelebt wird. In Europa beispielsweise handelt es sich vielfach um einen aufgeklärten Islam, der sich Merkmale des Westens aneignet.

Es ist ein Verdienst der Autorin, Denken, Gefühle, Probleme junger deutscher Muslime verständlich zu machen: deren Bemühen um Integration, ihr Selbstverständnis, Teil dieser deutschen Gesellschaft zu sein, auch wenn ihnen immer wieder die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Es sind nicht verbohrte Ideologen, denen Julia Gerlach ein Forum bietet, sondern junge Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität.

Die bietet ihnen der neue Trend der "Pop-Bewegung", der auch in arabischen Ländern verbreitet ist. Über Internetforen tauschen sich die Jugendlichen aus, auf arabischen Fernsehsendern verfolgen sie ihre Stars: religiöse Sänger oder Prediger, die - in Worten westlicher Kategorisierung - für einen aufgeklärten Humanismus eintreten. Es sind Menschen, die um Antworten ringen, sich mit ihrer Religion auf eine offene Art auseinandersetzen, sie interpretieren und mit der heutigen Zeit in Harmonie bringen möchten.

Doch warnt die Autorin vor allzu voreiligen Schlüssen. Die jungen Moslems bedienen sich zwar der neuen Medien, streben nach Bildung und ihrem Platz in der westlichen Gesellschaft, dennoch handelt es sich um eine konservative Reformbewegung: Sie tritt für Geschlechtertrennung ein, die Frauen tragen das Kopftuch als Zeichen ihrer Identität, und man lebt besonders fromm.

Die muslimische Bewegung der Livemakers etwa definiert Julia Gerlach so:

"Die Erkennungszeichen dieser Subkultur sind eine Mischung aus Abitur, HipHop und Islam, aus H&M und Geschlechtertrennung."

Die Mädchen und Frauen sind in der neuen Bewegung aktiver als die Jungen und Männer. Es ist ihre Form der Emanzipation. Zwangsehe und Ehrenmorde lehnen sie ab. "Sie wollen nicht so rechtlos sein wie in Saudi-Arabien und nicht so zum Sexsymbol erniedrigt werden wie die Frauen im Westen", schreibt Julia Gerlach. Auf diese Weise wird dem Leser ein distanzierter Blick auf manch sonderbare Abläufe in der eigenen Gesellschaft gewährt.

Gerlach zeigt aufgeschlossene junge Menschen, die gern Mitglieder der deutschen Gesellschaft sein und in ihr mitarbeiten möchten, sich aber oft unverstanden und ausgegrenzt fühlen. Dennoch bleibt Differenzierung notwendig und wird von der Autorin auch empfohlen: Etwa bei Betrachtung der Vereinigung Milli Görüs, die durch einen Mitgliederwechsel an der Spitze nicht mehr die Radikalität von früher ausstrahlen mag, als sie zu Recht intensiv vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.

Es bleiben einige Kardinalfragen in der Abwägung zwischen Kriminalisieren oder Integrieren: Welche Aussagen spiegeln den guten Willen des anderen wider, welche sind im Islam erlaubte Lügen zum Nutzen der Religion? Wie viel kulturelle Unterschiedlichkeit kann eine Gesellschaft aushalten?

Julia Gerlach gibt pragmatische Antworten, etwa wenn es um getrennten Schwimmunterricht oder Klassenfahrten geht: Letztlich solle jeweils die Einzelperson und ihr konkretes Verhalten beurteilt werden, bevor pauschal verdächtigt, verboten oder die Staatsbürgerschaft verwehrt wird. Denn schärferes Vorgehen könnte manch jungen Muslim erst recht in die Arme von Hasspredigern treiben.

Gerlach lässt zahlreiche junge Muslime teils sehr ausführlich zu Wort kommen. Dabei unterlaufen ihr einige Wiederholungen, was Längen schafft. Auch ist manchmal der rote Faden nicht erkennbar, Reportageelemente werden nur sparsam eingesetzt.

Rezensiert von Stefan May


Julia Gerlach: "Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland"
Ch. Links Verlag, Berlin 2006
258 S., 24 Abb., Euro 15,90