Mit Geistern unter einem Dach
"Es gibt die Zeit, den Raum, die Fantasie, die Intuition, die Religion, die Emotion" - für Isabel Allende gibt es viele Dimensionen der Realität. Zu Hause ist sie in Kalifornien, doch ihr Herz schlägt für Chile. Isabel Allende ist zurzeit zu Gast beim internationalen Literaturfest in Berlin.
Christiane Habermalz: Frau Allende, warum schreiben Sie über ein Land, dass Sie doch eigentlich gut kennen, als "Ihr erfundenes Land"?
Isabel Allende: Weil meine Erinnerungen an Chile sehr subjektiv sind. Und jeder Chilene mit dem Sie reden, wird Ihnen etwas anderes über sein Land erzählen. Ich wollte ein persönliches Buch schreiben, das von Herzen kommt, und keine soziologische Abhandlung. Und Vieles verändert sich. Als ich das Buch vor drei Jahren schrieb, war Ehescheidung in Chile noch verboten, und die Idee, dass eine Frau Präsidentin werden könnte, wie heute Michelle Bachelet, war völlig undenkbar. Eigentlich müsste ich jedes Jahr noch ein Kapitel dazuschreiben.
Habermalz: Sie haben Chile auch als das Land des Machismo beschrieben, und ein Land des katholischem Fundamentalismus'. Bis vor Kurzem haben Sie gerade gesagt - bis vor Kurzem war Scheidung in Chile unmöglich. Trotzdem ist jetzt eine Frau zur Präsidentin gewählt worden. Doch nun ist ausgerechnet in diesem Chile mit Michelle Bachelet eine Frau zur Präsidentin gewählt worden. Hätten Sie das Ihren Landsleuten zugetraut?
Allende: Dass Michelle Bachelet gewählt wurde, hat mich sehr überrascht. Aber in den letzten Jahren gibt es eine Tendenz - nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in anderen Ländern der Welt - Frauen in politische Ämter zu wählen. Denn Frauen sind fleißiger, ehrlicher, weniger anfällig für Korruption, sie sind teamfähiger und können kommunizieren, so dass die Leute anfangen, ihnen als Politiker mehr zu vertrauen. Michelle Bachelet ist in Chile ja regelrecht vom Volk benannt worden. Das hat mich auch insofern sehr gefreut, als in vielen Umfragen vorher gefragt wurde: Würden Sie einer Frau ihre Stimme geben? Und viele Frauen sagten: Also, ich vielleicht, aber mein Mann: Niemals!
Habermalz: Seit über 30 Jahren, seit Sie Chile nach dem Militärputsch gegen Salvador Allende verlassen mussten, leben Sie im Ausland. Zunächst im Exil in Venezuela. Seit 1988 leben Sie in den USA. Was bedeutet Heimat für Sie? Wo sind Sie zu Hause?
Allende: Zu Hause bin ich dort, wo meine Familie ist. Zu Hause bin ich in Kalifornien, bei meinem Sohn, meinen Enkeln, meinem Mann, meinem Hund, meinen Büchern, meinen Freunden, meiner Arbeit. Aber meine Wurzeln sind in Chile. Deswegen fahre ich regelmäßig dorthin - mehrmals im Jahr. Mein Herz ist in Chile. Etwas von diesem Land, seinen Leuten, seiner Landschaft ist ein Teil von mir. Und für mich ist das sehr wichtig, denn viele meiner Geschichten entstehen in Chile oder schöpfen aus Chile.
Habermalz: Sie sagen, Ihre erste, Ihre frühste Erinnerung an Chile ist die an Erinnerung an ein Haus, das Sie selber nie kennengelernt haben: Das Haus Ihrer Urgroßeltern, ein großes, altes Eckhaus in Santiago de Chile. Später spielte es eine Hauptrolle in Ihrem Roman "Das Geisterhaus". Kann man Erinnerungen an etwas haben, was man selber nie kennengelernt hat?
Allende: Meinem Enkel zufolge erinnere ich mich an Dinge, die nie stattgefunden haben. Dieses Haus war das Haus meiner Großeltern, bevor ich geboren wurde. Mein Großvater hat mir so viel davon erzählt, dass ich es bis ins kleinste Detail beschreiben könnte. Und seine Geschichten und Anekdoten über seine Bewohner - über die Generationen hinweg - tauchen alle im "Geisterhaus" wieder auf. Es ist seine Stimme, die erzählt. Und beim Schreiben habe ich es mir natürlich auch vorgestellt.
Ich lebe heute in Kalifornien in einem Haus, das auch "Geisterhaus" heißt. Es steht sogar auf Spanisch auf einem Schild draußen. Und es sieht sehr chilenisch aus. Wir haben es selber gebaut. Aber als es fertig war, war es uns viel zu neu. Wir wollten nicht in einem neuen Haus wohnen. Also haben wir es älter gemacht: Wir haben die Wände beschmiert und mit Hämmern auf die Türen eingeschlagen, Säure auf die Metallgitter geschüttet. Jetzt sieht das Haus alt aus, und ich denke, jetzt gibt es auch ein paar Geister dort.
Habermalz: Sie schreiben in Ihrem Buch, durch Ihre Großmutter hätten Sie den magischen Realismus kennengelernt, lange bevor er als Teil der lateinamerikanischen Literatur weltbekannt wurde. Was meinen Sie damit? was haben Sie von Ihrer Großmutter gelernt?
Allende: Ich habe von meiner Großmutter gelernt, dass es viele Dimensionen der Realität gibt. Nicht nur das Materielle, was wir mit unseren armseligen fünf Sinnen erfassen können. Es gibt die Zeit, den Raum, die Fantasie, die Intuition, die Religion, die Emotion. Es gibt Verbindungen, die wir wissenschaftlich nicht erklären können. Vielleicht können wir es eines Tages - dann müssen wir es nicht mehr Magie nennen.
Von meiner Großmutter habe ich gelernt, offen zu sein für alle Möglichkeiten, die das Mysterium des Lebens bereithält. Und das gibt mir viel Freiheit zum Schreiben. Meine Großmutter hat sich mit ihren Geistern und Wesen immer gut verständigen können. Sie hatte ihren dicken Tisch mit drei Beinen, an dem sie die Verstorbenen anrief. Aber sie war auch sehr religiös. Sie lebte in dieser Welt. Aber es war immer fröhlich. In ihrem Haus herrschte keine Dracula-Atmosphäre. Es war nicht wie in einem Horrorfilm. Die Vorstellung, mit lauter Geistern unter einem Dach zu leben, hatte eher etwas Lustiges - und es war ganz normal. Und es war einfach auch die lebendige Erinnerung an die Verstorbenen.
Habermalz: Sie hören Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende. Frau Allende, Sie schreiben, in Ihrem neuem Buch "Mein erfundenes Land", der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 hätte Sie zur US-Amerikanerin gemacht. Was bedeutet dieses Datum für Sie persönlich?
Allende: Am 11. September 2001 hat sich etwas verändert in den USA. Etwas in der Psyche der Amerikaner hat sich verändert. Ich fühlte mich bis dahin sehr fremd dort. Warum? Ich kam aus einem Land, aus einem Leben, in dem ich gelernt hatte, dass Unsicherheit zum Leben dazu gehört, dass sich alles ändern kann, dass morgen alles vorbei sein kann. Diese Vorstellung war den Amerikanern völlig fremd. Sie fühlten sich absolut sicher und unverletzlich.
Der 11. September ließ zum ersten Mal ein Gefühl von Angst aufkommen, und auch von großer Solidarität. Die Leute umarmten sich auf der Straße. Wir haben das erste Mal unsere Nachbarn kennengelernt. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich dazu gehörte und dass ich die amerikanische Mentalität endlich verstand: Weil sie wie die Meine war - das Gefühl von Verletzlichkeit.
Doch in den folgenden Monaten hat sich das geändert. Die Bush-Regierung hat es geschafft, die Stimmung im Land umzulenken. Das Gefühl von Solidarität wurde zu Polarisierung, Intoleranz, Hass. Jetzt solidarisiert sich auch niemand mehr mit den Amerikanern. Sie werden gehasst. Das hat die Bush-Regierung geschafft.
Habermalz: Es war zufällig auch ein 11. September - im Jahr 1973 - als das Militär gegen Ihren Onkel Salvador Allende putschte und die Demokratie zerstörte - mit Beteiligung der CIA. Dennoch sind Sie 15 Jahre später in die USA gegangen. War es schwierig für Sie, als Immigrantin in dem Land zu leben, das zumindest beteiligt war daran, dass die Demokratie in Ihrem eigenem Land blutig zugrunde gerichtet wurde?
Allende: Ich hatte nie die Absicht, in den USA zu leben. Ich kam 1987 für kurze Zeit, lernte dort meinen Mann Willi kennen, verliebte mich und zog zu ihm. Nie hätte ich gedacht, dass daraus 20 Jahre werden würden. Man kann nicht alle Amerikaner dafür verdammen, was die CIA heimlich in Chile gemacht hat. Und es gibt auch in Amerika ganz verschiedene Menschen. Ich glaube, der größte Teil der Amerikaner weiß gar nicht, was ihre Regierung im Ausland treibt.
Auch jetzt wissen viele Amerikaner nicht, wie viele Menschen im Irak getötet werden. Sie wissen, wie viele Amerikaner im Irak getötet wurden. Aber schon die Zahl der Verwundeten oder die getöteten Zivilpersonen - davon haben sie keine Ahnung. Es interessiert sie auch nicht sehr. Und noch viel weniger weiß man darüber, was in Chile passiert ist, oder bei der Militärintervention in Nicaragua oder in Panama. Aber wenn man ihnen von den Gräueln erzählt, wie ich auf meinen Lesereisen, dann sind die Menschen entsetzt.
Habermalz: Was bedeutet dieses Daten für Sie persönlich?
Allende: Es ist schwer zu sagen, wie das Leben unter anderen Umständen verlaufen wäre. Aber ich denke, ich wäre in Chile geblieben, wo ich sehr glücklich war, und wäre Journalistin geblieben. Vielleicht hätte ich nie ein Buch geschrieben. Die Tatsache, dass ich mein Land verlassen musste, hat mich Kräfte entwickeln lassen, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Ich kam nach Venezuela ohne Papiere, ohne Geld, ohne Familie, voller Schrecken und Verzweiflung. Unter diesen Umständen musste ich auf Ressourcen zurückgreifen, von denen ich bislang nichts ahnte. So kam ich zum Schreiben.
Habermalz: Salvador Allende, der frühere Präsident von Chile, war Ihr Onkel, ein Cousin Ihres Vaters. Was für Erinnerungen haben Sie an ihn? Wie haben Sie ihn - wie war Ihre Beziehung zu ihm?
Allende: Salvador Allende war ein sehr charismatischer Mensch. Er war unwiderstehlich. Dazu sehr intelligent und schlagfertig. Seine wichtigste Eigenschaft war sein persönlicher Mut. Er wirkte sehr attraktiv auf Frauen, obwohl er nicht schön war, weil er ihnen das Gefühl gab, seine ganze Aufmerksamkeit zu besitzen. Bei den Männern war es ähnlich. Er hatte eine so starke und gewinnende Persönlichkeit, dass es am Tag des Putsches keiner der Generäle gewagt hat, mit ihm persönlich zu sprechen. Sie schickten lieber Boten oder telefonierten, weil sie Angst hatten, er könnte sie Kraft seiner Persönlichkeit von ihrem Vorhaben abbringen. Er war sehr konsequent, wenn es darum ging, seine Ideen umzusetzen. Er hatte diesen Traum vom Sozialismus und er hat ihn umgesetzt bis zum Ende. Und er starb mutig, ohne sich zu verraten. Deshalb habe ich sehr großen Respekt vor ihm.
Habermalz: Die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende war das im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Herzlichen Dank Frau Allende!
Übersetzung aus dem Spanischen: Christiane Habermalz
Isabel Allende: Weil meine Erinnerungen an Chile sehr subjektiv sind. Und jeder Chilene mit dem Sie reden, wird Ihnen etwas anderes über sein Land erzählen. Ich wollte ein persönliches Buch schreiben, das von Herzen kommt, und keine soziologische Abhandlung. Und Vieles verändert sich. Als ich das Buch vor drei Jahren schrieb, war Ehescheidung in Chile noch verboten, und die Idee, dass eine Frau Präsidentin werden könnte, wie heute Michelle Bachelet, war völlig undenkbar. Eigentlich müsste ich jedes Jahr noch ein Kapitel dazuschreiben.
Habermalz: Sie haben Chile auch als das Land des Machismo beschrieben, und ein Land des katholischem Fundamentalismus'. Bis vor Kurzem haben Sie gerade gesagt - bis vor Kurzem war Scheidung in Chile unmöglich. Trotzdem ist jetzt eine Frau zur Präsidentin gewählt worden. Doch nun ist ausgerechnet in diesem Chile mit Michelle Bachelet eine Frau zur Präsidentin gewählt worden. Hätten Sie das Ihren Landsleuten zugetraut?
Allende: Dass Michelle Bachelet gewählt wurde, hat mich sehr überrascht. Aber in den letzten Jahren gibt es eine Tendenz - nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in anderen Ländern der Welt - Frauen in politische Ämter zu wählen. Denn Frauen sind fleißiger, ehrlicher, weniger anfällig für Korruption, sie sind teamfähiger und können kommunizieren, so dass die Leute anfangen, ihnen als Politiker mehr zu vertrauen. Michelle Bachelet ist in Chile ja regelrecht vom Volk benannt worden. Das hat mich auch insofern sehr gefreut, als in vielen Umfragen vorher gefragt wurde: Würden Sie einer Frau ihre Stimme geben? Und viele Frauen sagten: Also, ich vielleicht, aber mein Mann: Niemals!
Habermalz: Seit über 30 Jahren, seit Sie Chile nach dem Militärputsch gegen Salvador Allende verlassen mussten, leben Sie im Ausland. Zunächst im Exil in Venezuela. Seit 1988 leben Sie in den USA. Was bedeutet Heimat für Sie? Wo sind Sie zu Hause?
Allende: Zu Hause bin ich dort, wo meine Familie ist. Zu Hause bin ich in Kalifornien, bei meinem Sohn, meinen Enkeln, meinem Mann, meinem Hund, meinen Büchern, meinen Freunden, meiner Arbeit. Aber meine Wurzeln sind in Chile. Deswegen fahre ich regelmäßig dorthin - mehrmals im Jahr. Mein Herz ist in Chile. Etwas von diesem Land, seinen Leuten, seiner Landschaft ist ein Teil von mir. Und für mich ist das sehr wichtig, denn viele meiner Geschichten entstehen in Chile oder schöpfen aus Chile.
Habermalz: Sie sagen, Ihre erste, Ihre frühste Erinnerung an Chile ist die an Erinnerung an ein Haus, das Sie selber nie kennengelernt haben: Das Haus Ihrer Urgroßeltern, ein großes, altes Eckhaus in Santiago de Chile. Später spielte es eine Hauptrolle in Ihrem Roman "Das Geisterhaus". Kann man Erinnerungen an etwas haben, was man selber nie kennengelernt hat?
Allende: Meinem Enkel zufolge erinnere ich mich an Dinge, die nie stattgefunden haben. Dieses Haus war das Haus meiner Großeltern, bevor ich geboren wurde. Mein Großvater hat mir so viel davon erzählt, dass ich es bis ins kleinste Detail beschreiben könnte. Und seine Geschichten und Anekdoten über seine Bewohner - über die Generationen hinweg - tauchen alle im "Geisterhaus" wieder auf. Es ist seine Stimme, die erzählt. Und beim Schreiben habe ich es mir natürlich auch vorgestellt.
Ich lebe heute in Kalifornien in einem Haus, das auch "Geisterhaus" heißt. Es steht sogar auf Spanisch auf einem Schild draußen. Und es sieht sehr chilenisch aus. Wir haben es selber gebaut. Aber als es fertig war, war es uns viel zu neu. Wir wollten nicht in einem neuen Haus wohnen. Also haben wir es älter gemacht: Wir haben die Wände beschmiert und mit Hämmern auf die Türen eingeschlagen, Säure auf die Metallgitter geschüttet. Jetzt sieht das Haus alt aus, und ich denke, jetzt gibt es auch ein paar Geister dort.
Habermalz: Sie schreiben in Ihrem Buch, durch Ihre Großmutter hätten Sie den magischen Realismus kennengelernt, lange bevor er als Teil der lateinamerikanischen Literatur weltbekannt wurde. Was meinen Sie damit? was haben Sie von Ihrer Großmutter gelernt?
Allende: Ich habe von meiner Großmutter gelernt, dass es viele Dimensionen der Realität gibt. Nicht nur das Materielle, was wir mit unseren armseligen fünf Sinnen erfassen können. Es gibt die Zeit, den Raum, die Fantasie, die Intuition, die Religion, die Emotion. Es gibt Verbindungen, die wir wissenschaftlich nicht erklären können. Vielleicht können wir es eines Tages - dann müssen wir es nicht mehr Magie nennen.
Von meiner Großmutter habe ich gelernt, offen zu sein für alle Möglichkeiten, die das Mysterium des Lebens bereithält. Und das gibt mir viel Freiheit zum Schreiben. Meine Großmutter hat sich mit ihren Geistern und Wesen immer gut verständigen können. Sie hatte ihren dicken Tisch mit drei Beinen, an dem sie die Verstorbenen anrief. Aber sie war auch sehr religiös. Sie lebte in dieser Welt. Aber es war immer fröhlich. In ihrem Haus herrschte keine Dracula-Atmosphäre. Es war nicht wie in einem Horrorfilm. Die Vorstellung, mit lauter Geistern unter einem Dach zu leben, hatte eher etwas Lustiges - und es war ganz normal. Und es war einfach auch die lebendige Erinnerung an die Verstorbenen.
Habermalz: Sie hören Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende. Frau Allende, Sie schreiben, in Ihrem neuem Buch "Mein erfundenes Land", der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 hätte Sie zur US-Amerikanerin gemacht. Was bedeutet dieses Datum für Sie persönlich?
Allende: Am 11. September 2001 hat sich etwas verändert in den USA. Etwas in der Psyche der Amerikaner hat sich verändert. Ich fühlte mich bis dahin sehr fremd dort. Warum? Ich kam aus einem Land, aus einem Leben, in dem ich gelernt hatte, dass Unsicherheit zum Leben dazu gehört, dass sich alles ändern kann, dass morgen alles vorbei sein kann. Diese Vorstellung war den Amerikanern völlig fremd. Sie fühlten sich absolut sicher und unverletzlich.
Der 11. September ließ zum ersten Mal ein Gefühl von Angst aufkommen, und auch von großer Solidarität. Die Leute umarmten sich auf der Straße. Wir haben das erste Mal unsere Nachbarn kennengelernt. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich dazu gehörte und dass ich die amerikanische Mentalität endlich verstand: Weil sie wie die Meine war - das Gefühl von Verletzlichkeit.
Doch in den folgenden Monaten hat sich das geändert. Die Bush-Regierung hat es geschafft, die Stimmung im Land umzulenken. Das Gefühl von Solidarität wurde zu Polarisierung, Intoleranz, Hass. Jetzt solidarisiert sich auch niemand mehr mit den Amerikanern. Sie werden gehasst. Das hat die Bush-Regierung geschafft.
Habermalz: Es war zufällig auch ein 11. September - im Jahr 1973 - als das Militär gegen Ihren Onkel Salvador Allende putschte und die Demokratie zerstörte - mit Beteiligung der CIA. Dennoch sind Sie 15 Jahre später in die USA gegangen. War es schwierig für Sie, als Immigrantin in dem Land zu leben, das zumindest beteiligt war daran, dass die Demokratie in Ihrem eigenem Land blutig zugrunde gerichtet wurde?
Allende: Ich hatte nie die Absicht, in den USA zu leben. Ich kam 1987 für kurze Zeit, lernte dort meinen Mann Willi kennen, verliebte mich und zog zu ihm. Nie hätte ich gedacht, dass daraus 20 Jahre werden würden. Man kann nicht alle Amerikaner dafür verdammen, was die CIA heimlich in Chile gemacht hat. Und es gibt auch in Amerika ganz verschiedene Menschen. Ich glaube, der größte Teil der Amerikaner weiß gar nicht, was ihre Regierung im Ausland treibt.
Auch jetzt wissen viele Amerikaner nicht, wie viele Menschen im Irak getötet werden. Sie wissen, wie viele Amerikaner im Irak getötet wurden. Aber schon die Zahl der Verwundeten oder die getöteten Zivilpersonen - davon haben sie keine Ahnung. Es interessiert sie auch nicht sehr. Und noch viel weniger weiß man darüber, was in Chile passiert ist, oder bei der Militärintervention in Nicaragua oder in Panama. Aber wenn man ihnen von den Gräueln erzählt, wie ich auf meinen Lesereisen, dann sind die Menschen entsetzt.
Habermalz: Was bedeutet dieses Daten für Sie persönlich?
Allende: Es ist schwer zu sagen, wie das Leben unter anderen Umständen verlaufen wäre. Aber ich denke, ich wäre in Chile geblieben, wo ich sehr glücklich war, und wäre Journalistin geblieben. Vielleicht hätte ich nie ein Buch geschrieben. Die Tatsache, dass ich mein Land verlassen musste, hat mich Kräfte entwickeln lassen, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Ich kam nach Venezuela ohne Papiere, ohne Geld, ohne Familie, voller Schrecken und Verzweiflung. Unter diesen Umständen musste ich auf Ressourcen zurückgreifen, von denen ich bislang nichts ahnte. So kam ich zum Schreiben.
Habermalz: Salvador Allende, der frühere Präsident von Chile, war Ihr Onkel, ein Cousin Ihres Vaters. Was für Erinnerungen haben Sie an ihn? Wie haben Sie ihn - wie war Ihre Beziehung zu ihm?
Allende: Salvador Allende war ein sehr charismatischer Mensch. Er war unwiderstehlich. Dazu sehr intelligent und schlagfertig. Seine wichtigste Eigenschaft war sein persönlicher Mut. Er wirkte sehr attraktiv auf Frauen, obwohl er nicht schön war, weil er ihnen das Gefühl gab, seine ganze Aufmerksamkeit zu besitzen. Bei den Männern war es ähnlich. Er hatte eine so starke und gewinnende Persönlichkeit, dass es am Tag des Putsches keiner der Generäle gewagt hat, mit ihm persönlich zu sprechen. Sie schickten lieber Boten oder telefonierten, weil sie Angst hatten, er könnte sie Kraft seiner Persönlichkeit von ihrem Vorhaben abbringen. Er war sehr konsequent, wenn es darum ging, seine Ideen umzusetzen. Er hatte diesen Traum vom Sozialismus und er hat ihn umgesetzt bis zum Ende. Und er starb mutig, ohne sich zu verraten. Deshalb habe ich sehr großen Respekt vor ihm.
Habermalz: Die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende war das im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Herzlichen Dank Frau Allende!
Übersetzung aus dem Spanischen: Christiane Habermalz