Mit geballter Faust und zusammengebissenen Zähnen

Rezensiert von Wolfgang Schneider |
Heimito von Doderers später Roman "Die Merowinger" basiert auf einem Affekt, der gemeinhin für wenig salonfähig gilt: der Wut. Auch wenn man zwischenzeitlich den Überblick verliert angesichts der genealogischen Verfilzungen der "totalen Familie", fasziniert immer wieder Doderers burleske Phantasie. Bernd Jeschek liest in einem behaglichen Österreichisch, das die Dinge sinnlich zu betasten scheint.
"Nun, Herr Bachmeyer, wo fehlt’s denn, was haben Sie für Beschwerden?"

"Die Wut, Herr Professor. Ich leide unter schweren Wutanfällen, die mich entsetzlich anstrengen und sehr mitnehmen."

"'Hmh', sagte Horn mit leichtem Schnauben und Schnaufen, den Blick immer auf Bachmeyers Schuhspitzen geheftet, 'können Sie mir, Herr Bachmeyer, vielleicht sagen, welchen Grund diese Wutanfälle haben?'"

"Bachmeyers Augen blitzten auf wie das Mündungsfeuer bei einer Schußwaffe. Zugleich wurde seine Stimmlage jetzt hoch, fast fistelnd.'Wenn ich den Grund wüßte, Herr Professor, wäre ich vielleicht gar nicht zu Ihnen gekommen ...'"

Doderer war bekennender Choleriker, und "Die Merowinger" sind ein Nebenprojekt der Jahre 1950 bis 62, das die Arbeit an den epischen Großwerken wie eine Entspannungsübung begleitete. Ein großer Spaß sollte es sein. Die Handlung teilt sich in zwei Stränge. Den einen bilden die Episoden um den Wiener Wut-Therapeuten Professor Horn.

Merkwürdige Methoden zur Eindämmung und Abfuhr des Grimmes hat der innovative Psychiater entwickelt: etwa die "Nasenzange", das "Wuthäuslein mit ausfahrbarem Brüll-Trichter" oder den von einer bayrischen Blaskapelle begleiteten "Wutmarsch", der sämtliche Bewohner des vornehmen Mietshauses in Mitleidenschaft zieht. Unter ihnen der Schriftsteller Döblinger, der als Verfasser des vorliegenden Manuskripts firmiert. Ihm zahlt der meist vor Behagen schnaufende Horn für die akustischen Kollateralschäden seines therapeutischen Wirkens eine Entschädigung. Was den Schriftsteller nicht abhält, bald selbst eine Wut-Praxis nach Hornschem Vorbild einzurichten.

Der zweite Strang erzählt die Geschichte des fränkischen Barons Childerich III. von Bartenbruch. 1890 geboren, ist er der letzte Merowinger, ein überaus grimmiger Mann und der zahlungskräftigste unter Horns Patienten. Childerichs Wappen spricht für sich: eine Faust, die einen Knüppel hochreckt. Einem bizarren Ziel hat sich der Wüterich verschrieben: Durch ein System von Heiraten und Adoptionen versucht er, sämtliche Funktionen oder "Chargen" der Familie auf sich selbst zu vereinigen. Es beginnt mit einem beherzten Zugriff auf die junge Stiefmama:

"… ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man in dieser ganzen Sache die erste eigentlich planmäßige Aktion Childerich III. erblickt, welche denn auch damit endete, daß er die hinterbliebene zweite Gemahlin des Vaters zur Frau bekam und dadurch, als Gatte seiner Stiefmutter, sein eigener Vater wurde, und obendrein noch der sein Brüder, die das bald zu spüren bekommen sollten. Die Cumulation familiärer Würden auf ein und dasselbe Haupt, die Totalisierung der Familie gewissermaßen, nahm hier den recht eigentlichen bewußten Anfang."

In den "Merowingern" versetzt Doderer seine altertümelnd-elegante, die Kunst der Nuance pflegende Sprache mit Wissenschaftsparodie und dem grobianischen Humor mittelalterlicher Schwänke. Der Roman hat etwas von einer Monstrositätenschau; seine derbe Lust am Prügeln kann befremdend wirken. Für Doderer ist die Wut jedoch die fatalste Form der "Apperzeptionsverweigerung", wie seine Formel für die Neigung der Menschen lautet, die eigene Wahrnehmung auszuschalten und sich etwas vorzumachen – oder vormachen zu lassen.

Auch wenn man zwischenzeitlich den Überblick verliert angesichts der genealogischen Verfilzungen der "totalen Familie" – immer wieder fasziniert Doderers burleske Phantasie. Etwa bei der Darstellung der geradezu metaphysischen Machenschaften einer Londoner Firma namens Hulesch & Quenzel. Sie ist zuständig für die fabrikmäßig hergestellte Tücke des Objekts. In allen Abteilungen des satanischen Unternehmens sind die Mitarbeiter damit befasst, sich perfide Alltagsquälereien auszudenken, mit denen die Menschen zuverlässig in die Raserei getrieben werden. Zur Angebotspalette gehören unter anderem:

"No. 10731. Verschluß-Schrauben von Flaschen, Zahncremetuben etc. etc. aus hochelastischem Materiale, beim Herunterfallen springend. Teufelstänze am Steinboden des Badezimmers, Verrollen in entfernteste Ecken. (...) No. 10734 Schneidende Kragenknöpfe. Meist normal funktionierend. Jedoch von Zeit zu Zeit Hervorschnappen einer winzigen Klinge. Erzeugt stark blutende Schnitte, Befleckung von Hemd und Kragen gewährleistet. Eintritt der Störfunktion besonders bei gesteigerter Eile."

Natürlich sollte man dieses Buch nicht in gefiltertem Hochdeutsch vortragen. Bernd Jeschek verfügt über ein behagliches Österreichisch, das die Dinge sinnlich zu betasten scheint. Dass die Figuren des Romans mit geballter Faust und zusammengebissenen Zähnen agieren, hindert Jeschek nicht, den gemütlichen Erzählton zu forcieren. Vom Wutgeschehen lässt er sich nur in den szenischen Einlagen des Romans anstecken. Da brüllt, brummt, fistelt und keift er, wie es im Buche steht. Sonor und gaumenschmatzend gibt er den Professor Horn; die Kehle scheint ihm dagegen wuttrocken zu werden, wenn er Childerichs Grimm zu geben hat. Meist jedoch steigt er dem Text mit gravitätischer Miene in die absurdesten Verästelungen nach, eine schöne Kontrastwirkung.

Während Doderers universale Groteske bei allem schallenden Spaß auch etwas leise Unheimliches hat, signalisiert dieser Vorleser: Macht es euch bequem, öffnet die Ohren und den Hemdkragen. Aber Vorsicht mit den Knöpfen, die könnten von Hulesch & Quentzel sein.


Heimito von Doderer: Die Merowinger oder Die totale Familie
Gelesen von Bernd Jeschek.
Preiser Records, Wien, 10 CDs, Laufzeit 12 Stunden 20 Minuten