Mit falschem Schnurrbart

14.10.2008
Der Bachmann-Preisträger Tilman Rammstedt hat mit seinem neuen Roman "Der Kaiser von China" ein echtes Schelmenstück abgeliefert: Die Geschwister schenken ihrem Großvater eine Reise nach China. Der halsstarrige ältere Herr bricht mit dem Auto alleine auf - und schafft es nur 100 Kilometer weit. Jetzt kursieren rührend gefälschte Ansichtskarten und fantasievolle Briefe. Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen.
Die Geschwister legen zusammen und schenken ihrem Großvater eine Reise nach China. Lieblingsenkel Keith soll ihn begleiten, doch der hat keine Lust. Also bricht der halsstarrige ältere Herr alleine auf, und zwar mit dem Auto, schließlich sind es nur "8000 Kilometer Luftlinie".

Kurz darauf bekommt Keith einen Anruf. Sein Großvater hat es gerade bis in den Westerwald geschafft und ist dort in einem Krankenhaus gestorben. Jetzt hat Keith ein Problem. Seine Geschwister wissen nämlich nichts davon, dass der Großvater alleine losgefahren ist. Und angesichts der dramatischen Entwicklung würde Keith ihnen gegenüber auch lieber verheimlichen, dass er den Inhalt der gemeinsamen Reisekasse längst in einem Spielkasino durchgebracht hat. Er muss sich schnellstens etwas einfallen lassen.

Der Bachmann-Preisträger Tilman Rammstedt hat mit seinem neuen Roman "Der Kaiser von China" ein echtes Schelmenstück abgeliefert. "Wenn ich um Erklärungen schon nicht herumkam", überlegt sich Keith, "dann konnten es genauso gut welche sein, mit denen am Ende alle zufrieden waren."

Also entwirft er fantasievolle Briefe an seine Geschwister, in denen er die Schönheiten von Peking beschreibt und kleine Urlaubsanekdoten erfindet: Keith lügt, dass sich die Balken biegen, und das ist nur der Anfang. Tilman Rammstedt hat die fiktiven Reiseberichte in eine Rahmenerzählung eingebettet, in der ebenfalls ununterbrochen geflunkert, getäuscht und betrogen wird.

So hat der Großvater vor seinem Tod selbst noch rasch einen Stapel rührend gefälschter Ansichtskarten mit Urlaubsgrüßen aus "China" verschickt, obwohl er sich gerade mal hundert Kilometer von zu Hause entfernt hat, und darüber hinaus erfährt man unter anderem von einer recht unkonventionellen Liebesaffäre, die Enkel Keith mit der deutlich jüngeren Lebensgefährtin seines Großvaters hatte.

Zusammengehalten werden diese zunehmend groteskeren Episoden durch einen stilistischen Trick, den Tilman Rammstedt bereits in seinen ersten beiden Romanen ausprobiert hat. Er lässt seinen Erzähler Keith selbst die absurdesten Begebenheiten im stets gleichen Tonfall kommentieren: lakonisch und immer leicht verwundert.

Wenn er direkt neben seinem schlafenden Großvater von dessen Freundin verführt wird, ist es ihm zum Beispiel "unangenehm, wie deutlich willkommen mir ihre Hand war", und das ist die gleiche Stimmlage, in der der angeblich so weit gereiste Keith später überrascht feststellt, dass es "im chinesischen Fernsehen auffallend viele Sendung über Mundhygiene gibt".

Hat man sich in diesem stilistischen Netz erst einmal verfangen, erscheint plötzlich alles plausibel - sogar die Geschichte der chinesische Gewichtheberin Lian, die vor vielen Jahren als "Massiv von Macau" mit einem falschen Schnurrbart in einem Varieté in Deutschland aufgetreten sein soll. Diese Frau, behauptet Keith in seinen Briefen, sei die "einzige große Liebe" des Großvaters gewesen, und auf ihre Spuren hätten sie sich nun in China begeben. Natürlich hat der Enkel sie nur erfunden, um seinen Geschwistern einen Grund dafür zu liefern, dass er ohne den angeblich quietschfidelen Großvater von seiner angeblichen Reise aus dem fernen Osten heimkehren wird.

Doch auch als Leser ist man durchaus bereit, diese Version zu akzeptieren - und das, obwohl man von der ersten Seite an weiß, dass der Großvater tatsächlich gestorben ist und keine noch so große Liebe ihn zurück ins Leben führen wird. Das ist das Kunststück, das Tilman Rammstedt mit diesem charmanten Roman vollbringt: "Der Kaiser von China" besteht nur aus Lügen, und trotzdem glaubt man darin jedes Wort.

Rezensiert von Kolja Mensing

Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China
DuMont Verlag, Köln 2008,
190 Seiten, 17,90 Euro