Mit der Zündschnur durch die Schweiz

Von Anette Schneider |
Der Künstler Roman Signer entwickelt Aktionen, in denen die Zeit eine Hauptrolle spielt. Lange blieb er mit seinem verqueren Werk unbeachtet. Nun präsentiert die Galerie der Gegenwart in der Hamburger Kunsthalle eine Retrospektive unter dem Titel "Projektionen - Filme und Videos 1975 bis 2008", denn Signers einmalige und oft irrwitzig anmutenden Aktionen "überleben" allein in Filmen und Videos.
Roman Signer sitzt mit Schutzmaske und Schutzhandschuhen auf einem Drehstuhl in freier Landschaft. In jeder Hand hält er eine kleine Stange mit Sprengstoff und brennender Lunte. Als die Stangen explodieren, bringt der Rückstoß den Stuhl zum Drehen.

Oder: Ein großer roter Ball schwimmt einen schnellströmenden Bach hinab. Am Durchfluss einer Brücke bleibt er stecken, verstopft das Rohr, staut das Wasser auf, das höher und höher steigt - bis der Druck so groß ist, dass der Ball durch das Rohr gepresst wird.

Stets kreisen die Arbeiten des heute 71-jährigen Schweizers um Veränderungen. Die werden mal durch verstreichende Zeit erreicht, mal mit Hilfe von Sprengstoff. Und so spielt neben der genauen Planung der einzelnen Aktionen immer auch der Zufall eine Rolle.

"Man weiß eben nie genau, was kommt. Ich lass diesen Zufall zu. Mir gefällt das sogar. Da kommt etwas hinein, etwas von außen, vom Leben, von der Natur, was mir gefällt. Dass ich nicht alles bis zuletzt bestimmen muss, oder? Das gibt auch eine Öffnung, so hinaus, ins Leben."
In das wollte auch der junge Roman Signer. 1938 in Appenzell geboren, ging er mit Mitte 20 nach Zürich. Dort, und später in Luzern, studierte er Kunst. Danach arbeitete er als Dozent an einer Schule für Gestaltung - und begann mit seinen ungewöhnlichen Aktionen. Die ließ er auf Filmen und Videos festhalten, von denen nun 33 im Untergeschoss der Galerie der Gegenwart zu sehen sind. In den einzelnen Sälen laufen bis zu zwölf Arbeiten gleichzeitig. Zwar fällt in den nur wenige Minuten langen Filmen nie ein Wort - dennoch ist ihre Geräuschkulisse erheblich:

So lässt Roman Signer in einer großen Halle einen kleinen Laster einen Looping versuchen - und dabei kläglich abstürzen. Er hockt in einem Kajak, das von einem Auto über eine Landstraße gezogen wird - bis der Boden des Bootes durchgescheuert ist. Er liegt schlafend in einem Bett, während über ihm ein Modellhubschrauber kreist - wie ein riesiges, bedrohliches Insekt.

Oder - diese aufwendigste seiner Aktionen ist nicht zu sehen - er wandert 1989 von seinem Geburtsort Appenzell in seinen jetzigen Wohnort St. Gallen - neben sich eine brennende Zündschnur - Sinnbild für das abgebrannte Leben, für die vergangene und die ständig vergehende Zeit und, so Signer, Metapher für einen ganz persönlichen Abschied.

"Ich bin ja in Appenzell aufgewachsen, geboren, zur Schule gegangen. Meine Eltern sind gestorben. Für mich war das gewissermaßen ein Abschied. Ein Abschied von der Kindheit. Meine Eltern sind nicht mehr. Die Kindheit ist auch schon lang zurück. Ich hab das sehr stark empfunden ..."
35 Tage dauert die Aktion. Von morgens bis abends zieht Signer mit der Zündschnur an seiner Seite durch die Landschaft, quert Berge, Täler und Dörfer. Die Menschen, die ihn dabei beobachten, reagieren sehr unterschiedlich auf sein Tun.

"Eine Frau war mit einer Riesenrolle Schlauch über eine Wiese gekommen. Es hat geregnet wie wahnsinnig. Da sagte sie, sie hätte immer durchs Fenster uns zugeguckt und sie hätte gedacht: Die Zündschnur wird doch nass. Man könnte die doch durch den Schlauch hindurchziehen, dann würde sie nicht nass werden. Sag ich: ‚Kein Problem. Diese Zündschnur brennt auch unter Wasser.’ ‚Was? Unter Wasser?’ – ‚Ja’. - Liebe Frau ... (lacht)"

Erschreckend viele, so Signer, wurden aber auch böse oder aggressiv. So sprach ihn eines Abends ein Mann in einer Wirtschaft an. Gerade hatte er die zusammengerollte Zündschnur auf dem Fußboden entdeckt:

"’Was ist das?’, ganz aggressiv. Sag ich: ‚Das ist eine Zündschnur, die geht jetzt von Appenzell nach St. Gallen’. Sagt der: ‚Was?! Da geh ich die Polizei telefonieren. Sofort in die psychiatrische Klinik. Sofort!’. Da ging er telefonieren, in die Kneipe, und kam mit einem hochroten Kopf wieder raus. Und war noch zorniger wie vorher, weil die Polizei ihm gesagt hat, das sei erlaubt, ich hätte eine Bewilligung. Oh, da kam er zu mir und sagte: Also wenn er dürfte, würde er das Gewehr holen und mich gleich erschießen."

Roman Signer arbeitet mit einfachsten Mitteln. Tisch, Stuhl, Kajak, Fahrrad oder Modellhubschrauber reichen ihm aus, um gezielte Transformationsvorgänge in Gang zu setzen, Veränderungen vorzuführen - und damit das Verrinnen von Zeit zu versinnbildlichen. Und vielleicht war es eben dies, dass den Mann so aggressiv machte: Die Ahnung, die zusammengerollte Zündschnur könne ein Bild sein für das unermüdlich verrinnende Leben, gleich ob man es zu nutzen weiß oder nicht. Denn auch wenn man über die verrückten Aktionen Signers stets lachen kann - es bleibt von ihnen mehr als nur kurzlebiger Witz: Wenn sich ein Modellhubschrauber in einem Fußballtor verfängt, wenn Signer Kajak auf dem Trockenen fährt, oder über einen vereisten See spaziert und plötzlich einbricht - dann scheinen das immer auch Metaphern zu sein für die kleinen und großen Katastrophen unseres Daseins.

Service:
Roman Signer – Projektionen. Filme und Videos 1975 bis 2008
Galerie der Gegenwart, Hamburger Kunsthalle
5. Juni – 6. September 2009