Mit der Schere für die Menschenwürde

Von Ellen Häring · 13.09.2013
Die Frisörmeisterin Franziska Dinter bietet in Berlin und Brandenburg denen ihre Dienste an, die sich keinen Frisör leisten können. Es sind Obdachlose und Bedürftige. Das bringt ihr Segen, meint sie. Dabei hat sie selbst einen schweren Schicksalsschlag hinter sich.
Peter: "Es ist eine Schande, dass es Einrichtungen wie diese gibt, die notwendig sind, dass Leute so etwas zum Überleben brauchen, det ist 'ne Schande, is det".

Peter ist sauer. Er schimpft, während er sich die Treppe hochschleppt. Er dreht sich noch einmal um, sein Blick ist hellwach, die weißen Haare raspelkurz, der Schnauzbart gestutzt.

Gerade noch saß Peter unter der Treppe und durfte nicht schimpfen. Jetzt muss es raus.

"Und det find ick also ne Unverschämtheit."

In der Ecke unter der Treppe regiert Franziska Dinter, 60, Friseurin für Obdachlose und Bedürftige. Und Franziska duldet kein Gejammer beim Haareschneiden. Auch nicht von Peter. An einem Garderobenständer hängt ein Spiegel, verziert mit Glitzersternchen. Davor sitzt der nächste Kunde, ein mageres, wettergegerbtes Gesicht, rot, gezeichnet vom Alkohol.

Kunde und Franziska: "Was machen wir? Alles runter! Radikal, ja? Ja, auch die Augenbrauen, dann sehe ich wieder aus wie ein Fußball, aber lassen Sie die Ohren dran!"

Franziska legt ihrem Kunden einen stahlblauen Umhang mit spektakulärem Farbmuster um den Hals. Dann legt sie los.

Sie schneidet trocken, es gibt kein Wasser hier und auch keinen Strom. Die Akkus lädt sie im Café der Berliner Gedächtniskirche auf, gleich den Flur entlang. Dort findet gerade ein Frühstück mit Andacht für Obdachlose und Bedürftige statt.

Oskar: Weil ich jetzt zehn Jahre auf der Straße lebe, ich nehme auch seit zehn Jahren kein Hartz IV an, nur Betteln und Musik. Und Kirche und Sozial. Wegen Umziehen, Duschen und so, Frisör zum Beispiel, ne.

Oskar erzählt, Franziska stutzt den Bart. Dann holt sie eine Flasche aus ihrem Täschchen. After Shave. Sie streichelt mit weichen, duftenden Händen über Oskars Nacken, dann über seine Wangen, langsam und zärtlich. Der schließt für einen kurzen Moment die Augen.

Oskar: "Die Dame ist Profi. Die schneidet mich nicht zum ersten Mal. Danke. Absolut Meisterin."

Oskar greift tief in die Tasche seiner speckigen Jeans, holt ein paar Münzen raus und steckt sie Franziska in die Kittelschürze.

Sie kramt die Münzen, die sie bekommen hat, aus ihren Taschen und legt sie auf den Tisch. Der Pfarrer soll sie behalten. Dann fegt sie noch schnell zusammen, sie muss weiter. Zur Bahnhofsmission.

Franziska: "Ich kriege nirgendwo Geld, ich habe keinen Arbeitsvertrag, was ich spüre, was ich unendlich kriege, das ist Segen. Und deshalb geht's mir so gut."

Franziska Dinter lebt seit einem schweren Verkehrsunfall von der Grundsicherung, holt sich ihre Kleider in der Kleiderkammer, ist schwerbeschädigt und berufsunfähig. Ihren Frisiersalon musste sie aufgeben, sie wohnt im Plattenbau. Der kleine Balkon ist ein Sammelsurium winziger Andenken. Franziska geht zum Bücherregal.

"So, ich zeige ihnen jetzt mal zwei von meinen vier Fotoalben, wo ich Leute fotografiert habe vor und nach dem Haareschneiden. Das Erste, was den Leuten verloren geht, egal aus welchen Gründen sie sozial schwach oder obdachlos sind, denen geht die Menschenwürde verloren. Und dann legen sie keinen Wert mehr auf Haare, auf Zähne und auf Schuhe. Und schon werden sie als Assi abgestempelt."

Das war mein erstes Album gewesen hier.

Sie öffnet ein weißes Album, es zeigt Fotos von Männern mit langer, verfilzter Mähne, mit roten Gesichtern und tiefen Falten.

"Gucken Sie mal, so sieht ein Mann vorher aus und hinterher sieht der doch ganz anders aus."

Unter manche Bilder hat sie mit Kugelschreiber den Geburtstag notiert.

Nach ihrem Unfall liegt Franziska acht Wochen im Koma, dann im künstlichen Koma, dann im Wachkoma. Alle Organe sind verletzt und gequetscht, sie hat schwerste Hirnverletzungen. Aber Franziska wacht wieder auf, lernt wieder sprechen und laufen. Ihr zweites Leben beginnt.

"Ich lebe das ganz bewusst. Zum Beispiel, wenn ich irgendwo Treppen steigen muss und ich kann die alleine runtergehen und ohne Geländer. Das ist für mich ein Wunder. Ich bin ja zuerst Rollstuhl gefahren, Fahrstuhl gefahren, dann bin ich auf dem Po die Treppen runtergerutscht, dann bin ich rückwärts runtergerutscht. Das habe ich alles lernen müssen."

Seither ist sie davon überzeugt, dass ihr "oberster Chef" die Geschicke lenkt und es eine Fügung ist, dass sie heute denjenigen die Haare schneidet, die sich einen Frisör nicht leisten können.

So wie der Pole, der um seinen Lohn betrogen wurde, und den Franziska Dinter im einem Badezimmer im Obdachlosenzentrum Berlin-Mitte gerade rasiert. Sie trägt OP-Handschuhe und guckt zur Tür. Da steht Maurice. 23 Jahre alt. Drogenabhängig. Obdachlos.

"Hallo wie geht's denn?"

"Danke, gut, wie geht's denn selber?"

"Na, geht so."

Maurice hat von Franziska vor ein paar Wochen einen kleinen Schutzengel aus Gips bekommen, weil sie sich Sorgen um ihn macht. Sie kennt sich nicht aus mit Drogen, aber spürt, dass Maurice dringend Halt braucht. Und sie gibt Tipps.

"Machen Sie ehrenamtlich irgendwo. Können Sie lesen und schreiben? Können Sie lesen und schreiben? Ja. Dann gehen Sie gerade in Altenheime."

Maurice wollte eigentlich nur die Seiten rasieren lassen. Jetzt ist er schon eine halbe Stunde hier.

"Sie haben so ein wunderschönes Leben, so schöne Haare und so ne gute Einstellung. Lassen Sie mal, wenn die Zeit reif ist, dann werden Sie das auch schaffe."

"Ich werde das auch schaffen, ich will das vor dem Winter schaffen!"

Bevor er geht, greift er in seinen vollgestopften Rucksack und holt mit gezieltem Griff etwas heraus.

"Und hier ist halt der Schutzengel. Der begleitet mich jetzt."

"Der soll immer schön aufpassen, auch wenn er gebrochene Flügel hat, die helfen trotzdem, oder?"

"Ja."