Mit der Kraft der Fantasie

Der jungen walisischen Autorin Grace McCleen ist mit diesem Roman ein bemerkenswertes Debüt gelungen. Sie erzählt von einem kleinen Mädchen, das sich mit viel Fantasie eine alternative Welt erschafft - und plötzlich sogar mit Gott reden kann.
Eine einsame Zehnjährige, die sich nicht nur in der Fantasie, sondern ganz real mit Abfällen aller Arten, Klebstoff und Farbe eine alternative Welt in Miniaturformat baut, die mit Bergen und Meer, Städten und Wäldern mittlerweile fast ihr gesamtes Zimmer ausfüllt und mit Menschen aus Modelliermasse und Pfeifenputzern bevölkert ist – was für eine wunderbare Heldin eines Romans für Erwachsene. Selten wird die kreative Fantasie eines Kindes so respektvoll und überzeugend dargestellt.

Der Roman erzählt von Judiths Leben in einer Welt, die strikten Regeln folgt und für ein kleines Mädchen wenig Interesse zeigt. Judiths Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater sorgt pflichtbewusst für die materiellen Bedürfnisse seiner Tochter, aber er redet nicht mit ihr. Vater und Tochter gehören zu einer christlichen Bruderschaft, deren Mitglieder Bibelstudien treiben, an das bevorstehende Weltende glauben und am Wochenende von Tür zu Tür gehen, um ihre Mitmenschen zu bekehren.

In der Schule ist Judith eine Außenseiterin. Eines Tages ist sie davon überzeugt, dass ein besonders brutaler Mitschüler sie umbringen wird. Sie weiß keinen Rat, kann mit niemandem reden. Bräuchte sie nur nicht am Montag zur Schule zu gehen ... Würde es doch schneien ... Mit Hilfe von weißer Watte, Zucker und Mehl lässt sie es wenigstens in ihrer Alternativwelt schneien.

Am Ende geht es um Alles oder Nichts
Und siehe da: Am nächsten Morgen liegt die wirkliche Stadt unter einer dicken Schnee- und Eisdecke begraben, und Judith muss nicht zur Schule gehen. Für das Mädchen gibt es nur eine Erklärung: Sie kann Wunder bewirken. Und dann beginnt auch noch Gott mit ihr zu reden. Aber es ist ein seltsamer Gott, der ziemlich unberechenbar und keineswegs hilfreich ist.

Der Streit mit dem Schulfeind eskaliert schließlich und wird zur realen Bedrohung für sie und ihren Vater, der ohnehin große Probleme als Streikbrecher in seiner Fabrik hat. Judith muss sich mit der Verantwortung für ihr eigenes Handeln auseinandersetzen. Und am Ende geht es um Alles oder Nichts.

Die Erzählerin des Romans ist Judith selbst. In einfacher, gleichwohl differenzierter, oft poetischer Sprache wird altkluge Kindlichkeit suggeriert, ohne diese plump zu imitieren und in einen falschen Kinderton zu verfallen. Relativ kurze, prägnante Sätze, lebensechte Dialoge, genau beobachtete Menschen mit ihren unterschiedlichen Marotten und Merkwürdigkeiten, biblische Anklänge – alles ist glaubwürdig bis hin zu Judiths Überzeugung, in direktem Kontakt zu Gott zu stehen und Wunder wirken zu können.

Die Einsamkeit und Not, aber auch die Kraft, mittels Fantasie Welten zu schaffen, sowie der Glaube des Mädchens sprechen aus jeder Zeile. Der jungen walisischen Künstlerin und Autorin Grace McCleen ist mit diesem Roman ein bemerkenswertes Debüt gelungen. Last but not least: Der Roman ist trotz der schwierigen Problematik kein bisschen bedrückend – sondern einfach schön.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Grace McCleen: Wo Milch und Honig fließen
Aus dem Englischen von Barbara Heller
Deutsche Verlagsanstalt, München 2013
384 Seiten, 19,99 Euro