Mit den Händen sehen

Von Silvia Plahl |
1806 ordnet Friedrich Wilhelm II. die Einrichtung der ersten Blindenschule an. Der Unterricht beginnt mit nur einem Schüler in den Berliner Privaträumen des Lehrers August Zeuner. 200 Jahre später lernen knapp 200 Schüler an der Blindeneinrichtung. Nach dem Schulabschluss geht es zum Beispiel in die Ausbildung zur Fachkraft für Büro- und Telekommunikation. Bis heute ist die Schule ein Zentrum der deutschlandweiten Blindenbildung.
Blinde und sehbehinderte Kinder toben auf dem Pausenhof ihrer Schule. Die Kinder spielen Räuber und Gendarm. Diejenigen, die noch etwas sehen können, nehmen die blinden an die Hand.

Die Schulglocke. Zurück in die Klassenräume. Ein Mädchen schiebt seine Freundin im Rollstuhl ins Schulgebäude. Ein Junge hakt sich bei einem Erwachsenen ein. Sami, Özge und Silan gehen langsam die Treppe hoch in den ersten Stock.

Die drei Mädchen besuchen die zweite Klasse der Berliner Blindenschule, der Johann-August-Zeune-Schule in Berlin-Steglitz. Die zweite Klasse hat jetzt Mobilitätstraining. Die Kinder setzen sich auf ihre Plätze und versuchen, sich von dort aus im Klassenraum zu orientieren.

"Wir machen das mal so, Özge, dass du mal bitte zur Türwand gehst. – Türseite. – Zur Türseite. Genau. Machst du das mal? So schnell du kannst."

Klassenlehrerin Steffi Werner schickt die drei Siebenjährigen von Wand zu Wand.

"Wenn du die Tür gefunden hast, dann klopfst du mal ganz leise dagegen, bitte. Die Sami ist jetzt die Briefträgerin und bringt Post zu Özge an die Türseite."

Die Mädchen tasten sich an Schulbänken entlang, weichen Stühlen aus. Die Tür ist ganz hinten. Die Tafelseite links, die Regalseite rechts.

"Die Briefträgerin ist jetzt schon an der Tafelseite angekommen. … Silan geht jetzt mal bitte zur Regalseite. – Nein, das ist nicht die Regalseite … Die Regalseite ist dort, wo unser großes Regal ist und eure Fächer sind ..."

Mobilität, Orientierung und Alltagsfragen: Wie kaufe ich ein? Wie wasche ich ab? Wie kennzeichne ich meinen Salzstreuer, damit ich ihn nicht mit dem Pfefferstreuer verwechsle? – Das Üben von so genannten lebenspraktischen Fertigkeiten steht hier für alle Kinder auf dem Stundenplan, neben Deutsch, Mathe und Physik. – Seit 200 Jahren. Die Johann-August-Zeune-Schule bereitet blinde Menschen auf ein selbstständiges Leben vor. So früh wie möglich. Für viele Familien ist das Haus in der Tat die erste Anlaufstelle.

"Ich krieg einen Anruf, und da ist eine große Klinik dran, die sagen, wir haben grad ein Kind, ist geboren worden, hat keine Augen, ... was sollen wir machen?"

Schulleiter Thomas Kohlstedt reagiert prompt auf einen solchen Anruf.

"Und dann schicken wir in die Klinik einen Ambulanzlehrer, der sich da auskennt in diesem Bereich, und berät sowohl die Ärzte, als auch die Krankenschwestern, als auch die Eltern."

Viele Eltern halten den Kontakt dann aufrecht. Ihre Kinder können zuhause oder im Kindergarten von Ambulanzlehrern der Zeune-Schule gefördert werden. Diese Betreuung wird fortgeführt, wenn die blinden Kinder dann eingeschult werden und gemeinsam mit Sehenden eine Regelschule besuchen. Immer mehr Eltern aber, sagt Thomas Kohlstedt, schicken ihr Kind lieber zur Blindenschule – dort werden sie ebenfalls nach allgemeinem Lehrplan unterrichtet, jedoch in Kleinklassen mit circa sechs Schülern. Ob hier im besonders geschützten Rahmen, oder dort in den Integrationsklassen. In jedem Fall erlernen die Kinder zuallererst das Lesen und Schreiben der Punktschrift. Der Blindenschrift nach Louis Braille.

Sami hält eine Stoffpuppe im Arm. "Pünktchen", ein blonder Wuschelkopf mit sechs dicken Kugelknöpfen im Bauch.

"So drückt man L,… Das sind nämlich sechs Punkte… und jeder Buchstabe hat eine bestimmte Punktekombination. Mit diesen Pünktchen kann man das wie Knöpfe raus drücken, und dann fühlt man. zum Beispiel sind hier drei Punkte rausgedrückt, von oben nach unten, Punkt 1, 2, 3 und dann wissen wir, das ist das L."

Samis Klassenlehrerin erklärt, wie sich aus den sechs Punkten – angeordnet wie die Punkte auf einem Würfel – das ganze Alphabet kombinieren lässt.

"Ä und Ö und Ü hatten wir noch nicht, und dann hatten wir das Y noch nicht, aber die meisten Buchstaben haben wir auch durch bekommen. – Das ist das Ö! – Zeig mal, … kannst du die Punkte benennen? – Punkt vier und Punkt sechs und Punkt zwei."

Wer die Punktkombination eines Buchstabens kennt, fängt an, auf einer Punktschriftmaschine zu schreiben. Einer Art mechanischer Schreibmaschine, deren sechs Tasten die Blindenschriftpunkte ins Papier stanzen.

Punktschriftmaschinen oder Punktdruckmaschinen gibt es seit dem 19. Jahrhundert.

Berlin, 1806. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. beauftragt den Geografen Johann August Zeune mit der Gründung einer Blindenschule. Vorbild und Anreiz sind die Pariser Blindenanstalt und eine neue Schule für Blinde in Wien. Blinde fristen bis dato vor allem als Bettler ihr Dasein – ihnen eine Schulbildung anzubieten, ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Johann August Zeune setzt sich enthusiastisch für eine gute Blindenlehre ein: Musikunterricht ist ihm ebenso wichtig wie die Theorie der Wissenschaften und das praktische Hand-Werk. Zeune lässt seine Schüler Berliner Theater und Konzerte besuchen und führt die Fächer Turnen und Schwimmen ein. Unter dem Pseudonym Frischmut Wellenreiter verfasst er so genannte Schwimmlieder, und einer seiner prominenten Weggefährten, Felix Mendelssohn-Bartholdy, vertont sie. Zwei Jahrhunderte später entdeckt Zeunes Biograph Hartmut Mehlitz einen Sonderdruck der Lieder in Wien und lässt in Berlin eine der dazugehörigen Kompositionen wieder einspielen.

Johann August Zeune stellt für seine Blinden selbst Unterrichtsmaterialien her, etwa einen Reliefglobus, der auch verkauft wird. Ein solcher Reliefglobus ist heute noch in einem kleinen Museum ausgestellt, das der Berliner Blindenschule angegliedert ist. Der Historiker Hartmut Mehls ist Vorsitzender im Förderverein des Museums. Die Blinden haben Zeune bis heute viel zu verdanken, sagt Mehls, der selbst mit acht Jahren im Zweiten Weltkrieg sein Augenlicht verlor. Und doch:

"Man wirft heute Zeune natürlich vor, dass er Bettler produziert hat mit hohem wissenschaftlichem Niveau. Dass Zeune sich zu wenig um Arbeitsmöglichkeiten gekümmert hat. Sondern er hinterließ hoch gebildete Blinde. Die dann aber, wenn sie die Schule verließen und keine Arbeit hatten, was meistens der Fall war, wieder betteln gehen mussten."

Der Mangel an Arbeitsplätzen für Blinde ist heute wie vor 200 Jahren aktuell. 140 Schüler besuchen derzeit die August-Zeune-Schule: die Grundschule, die Haupt- oder Realschule, die Berufsfachschule. Sie sind blind oder sehbehindert, viele von ihnen zusätzlich geistig- oder lernbehindert. 100 Pädagogen – Lehrer, Physiotherapeuten und Logopäden – unterrichten und betreuen die Schüler. Diese können auch das benachbarte Gymnasium besuchen, später an Universitäten studieren. Eine Garantie auf Arbeit haben auch sie aber nicht. Die Schule kann sich nur bemühen, in der Ausbildung stets auf dem neuesten Stand zu sein.

Korbmacher, Bürstenmacher und Stuhlflechter sind die klassischen Blindenberufe seit dem 19. Jahrhundert. Holz- und Metall-Handwerke werden an der Zeune-Schule heute noch unterrichtet und in Blindenwerkstätten auch ausgeübt. Im alten China war der Beruf des Masseurs den Blinden vorbehalten. In Berlin kann ein Vorbereitungskurs für die staatliche Masseur- und Physiotherapeutenausbildung besucht werden. Neue Berufschancen versucht die Blindenschule mit so genannten "Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste" und "Fachkräften für Büro- und Telekommunikation" aufzutun.

"So was wie Telefonzentrale oder in nem Sekretariat, wo Briefe zu schreiben sind, oder Briefe abzuschreiben sind, wo dann jemand das auf Kassette diktiert hat … so ne Sachen wären halt optimal. Weil das wegen des Nicht-Sehens gar nicht anders möglich ist."

Mandy Wolff, 25, und ihr Partner Peter Fischer, 30 Jahre alt, absolvieren zusammen die zweijährige Ausbildung zur Bürofachkraft. Sie arbeiten gerade an einem Geschäftsbrief und sitzen an einem Computer mit einer so genannten Screenreader-Software. Der Screenreader liest die Textzeilen auf dem Bildschirm, eine Braille-Zeile unterhalb der Tastatur zeigt sie an. Zeile für Zeile. Bilder und Grafiken können Mandy Wolff und Peter Fischer nicht wahrnehmen.

"Für mich ist es einfach bloß der Text – oben angefangen, und unten ist er dann irgendwann mal zu Ende. Ich mein, ich weiß, dass es irgendwo oben diese Menüleiste gibt, wo Mausbenutzer dann drauf klicken können. Ich das mit der Tastatur mache. Er: Die Taskleiste, die wir oben sehen, die ist auf dem Bildschirm tatsächlich – wie uns mal jemand erklärt hat – irgendwo unten links."

"Die Wiedereingliederung Blinder ist – zumindestens finanziell – kaum ein Problem. Wir haben sehr viel Spendengelder, die von alleine fließen."

Die Schule kann sich die teuren PCs und die moderne Call-Center-Anlage immerhin leisten. Leiter Thomas Kohlstedt ließ auch ein neues musikalisches Leitsystem installieren, das mit Klassik, Pop etcetera den Weg vom Schultor bis ins Gebäude weist. Das Haus hat viele Förderer und bekommt nicht selten Erbschaften vermacht. Kohlstedt sieht sich hier klar im Vorteil.

"Auch wenn es nicht schön ist, es ist so, es ist eine Hierarchisierung drin, und der Begriff der Edelbehinderung Blindheit steht immer wieder im Raum, dass man sagt: Ja, das sind Menschen, die haben einen Vorteil, dass sie wenigstens mit ihrer Behinderung nicht noch diskriminiert werden, und an der Straße und angepöbelt werden. Der psychisch Kranke, der an der Ecke steht und auffällige Geräusche oder Bewegungen macht, der hat’s erheblich schwerer, ja."

Doch auch die Schule Johann August Zeunes kümmert sich um diejenigen, die nicht nur blind oder sehgeschädigt sind, sondern noch zusätzlich lern- oder geistig behindert. Sie werden in eigenen Gruppen betreut.

Es ist Mittagszeit. Daniel, 15 Jahre alt, sitzt mit seiner Gruppe am Tisch und isst Tortellini. Er ist heute außerordentlich kontaktfreudig und gesprächsbereit.

"Tortellini und noch Fischpfanne."

Auch Daniel lernt hier an der Schule.

"Lesen, rechnen, einkaufen. Und zuhause spiel ich mit meinem Neffen. Hab hier schon einen Freund, zwei Freunde, ja."

Etwa 150.000 blinde Menschen gibt es in der Bundesrepublik, so der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband. Eine Zahl, die über die Auszahlung des Blindengeldes festgestellt werden kann. Hinzu kommen mindestens 500.000 Sehbehinderte. Darüber hinaus nehmen jedoch die so genannten Mehrfachbehinderungen mit Sehschädigung, schwerer geistiger und körperlicher Behinderung zu – Kinder, die früher gestorben wären, können heute dank medizinischer Fortschritte überleben. Und die Zahl der im Alter erblindenden Menschen steigt an. – Hauptsächlich durch die Makuladegeneration, eine altersbedingte Schwächung der Netzhaut, aber auch durch Diabetes. "Wie muss Blindenbildung künftig aussehen?" diskutieren Bildungspolitiker, Blindenpädagogen und Vertreter von Selbsthilfegruppen auf einem Symposium zum 200-jährigen Jubiläum. Wie können neue Berufsfelder erschlossen werden? Wer finanziert die berufliche Bildung? Die Erwachsenenbildung? Die Rehabilitation der im Alter Erblindeten?

Der Berliner Blindenschule hat das 200-Jährige nun endlich die Sanierung der alten Backsteingebäude beschert. Im Treppenhaus testet die 16-jährige Anna mit Schulleiter Kohlstedt das neu konzipierte Geländer.

"Jetzt kommt eine Kurve. – Was heißt das denn? – Das Geländer ist zu Ende. – Und? – Die Tür kommt. – Hier wird’s ganz komisch, jetzt kommt hier so’n weißes Stangengerät. – Und da steht nachher drauf auf Punktschrift: Info. Und da kannst du hier nachlesen, dass es hier zum Fahrstuhl geht oder zur Schulleitung. Immer wenn dieses so kalt wird und so rifflig, gibt es Informationen. – Das ist gut. – Wenn du jetzt hier weiter gehst – Dann kommt hier der Fahrstuhl – Genau, Tür oder Fahrstuhl endet immer mit diesem runden Teil. – Das ist gut. Mit dem runden Holzteil. – Ja."

Erziehung zur Selbstständigkeit – Johann August Zeune schrieb 1821:

""Es ist wahrlich keine Wohltat für solche blinden Kinder, wenn ihre Angehörigen ihnen alle Handverrichtungen tun, sie an- und auskleiden, das Essen klein schneiden und wohl gar in den Mund stecken, und sie untätig hindämmern lassen. Sie glauben, dass sie es gut machen, ich sage aber, dass sie es schlimm machen."

Jonas Hauer, 28, ein selbstbewusster junger Mann, der Klavier studiert hat und nun ein Physiotherapeut für Musiker werden will – er meint dazu im Jahr 2006:

"Klar, man lernt den Stoff. Aber wie ich als Blinder zum Beispiel auf Sehende zugehe. Oder wie ich mich verhalte, wenn ich irgendwas von denen will. Das lern ich überhaupt nicht. Überhaupt kein bisschen. Also ich hab nicht einmal in meiner Schulzeit – hätte mich mal irgendein Lehrer oder irgendwer anders informiert. Oder zum Beispiel, ich komm als Blinder irgendwo rein, in nen Club, bei Musik ist es ja oft so, es ist super laut, ich krieg nicht so richtig was mit. Und was mach ich jetzt so? Ich kann mich natürlich hinsetzen und die Außenwelt ignorieren, weil ich sie nicht mitbekomme, oder weil es mir eben zu komplex ist. Oder ich kann auch so tun, als ob ich alles mitbekomme und als ob ich quasi ein Sehender wäre, - aber beides funktioniert halt nicht."