Mit den Händen begreifen lernen

Von Michael Lachmann |
Jahrhundertelang waren blinde Menschen von der Gesellschaft ausgegrenzt, fristeten ihr Leben als Ausgegrenzte. 1806 richtete der Berliner Pädagoge August Zeune die erste deutsche Schule für blinde Kinder ein. "Fühlen, Hören, Sehen - 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland" - diesem Thema widmet sich jetzt das Deutsche Technikmuseum Berlin mit einer Schau für Blinde - und Sehende.
Die Band der Blindenschule im nordrheinwestfälischen Düren ist sehr musikorientiert und hat über die tägliche Arbeit mit der Blindenschreibmaschine sogar einen Titel getextet und komponiert, der unter sehgeschädigten Jugendlichen gegenwärtig zum Hit avanciert. "Tango der Maschinen" haben sie ihr Stück genannt. Die Musik war einer der wenigen Bereiche, in dem einige begabte blinde Menschen in vergangenen Jahrhunderten gesellschaftliche Anerkennung finden konnten - als Organisten oder Klavierstimmer. Ansonsten waren Korb-und Bürstenmacherei verbreiteter Broterwerb, ab und an etwas Mithilfe in anderen Handwerksarbeiten, die Industrie blieb ihnen im 19. Jahrhundert lange ganz verschlossen.

Eine Kommunikationsmöglichkeit, also sich gar über Lesen und Schreiben mitzuteilen, existierte nicht und als jene rettende Erfindung gemacht wurde, gab es Vorbehalte von jenen, die eigentlich dafür die Verantwortung trugen. Anna Döpfner, Kuratorin dieser Ausstellung.

""Zunächst mussten die Blinden so schreiben, wie die Sehenden. Da wurden Folien entwickelt, in deren Rillen, da konnten die Blinden rein schreiben, damit sie die Linien halten, damit sie die Buchstaben richtig formen. Und dann hat ja schon relativ früh 1825 Louis Braille in Paris in der Blindenschule die Punktschrift erfunden, die gleichermaßen für Noten, zum Rechnen oder auch für die Schrift benutzt werden kann. Aber die Blindenlehrer und andere, die mit der Blindenbildung befasst waren, haben das nicht so leicht angenommen, weil sie dachten, das würde zu einer Geheimschrift der Blinden führen."

Eine Überheblichkeit der Sehenden über die Blinden im 19. Jahrhundert. Auch davon bekommt der Besucher in dieser Ausstellung Kenntnis. Schließlich hat sich die Punktschrift doch durchgesetzt, weil sie viel besser tastbar ist. Ihre Buchstaben setzen sich jeweils aus sechs Punkten zusammen und möglich sind 63 Kombinationen von unterschiedlichen Erhöhungen. Das modernste Gerät auf diesem Gebiet ist ein 1991 erfundenes Vorlesegerät, das über einen Scanner die eingelesene Schrift an eine künstliche Stimme weiterleitet und Blindenschrift überflüssig werden lässt. Mit den Händen begreifen lernen, ist eine der Grundaufgaben der Blindenschulen, und da gibt es heute kaum ein Fach, das man nicht erlernen könne. Dietmar Gatsch ist selbst Betroffener und Lehrer an der Blindenschule Königs Wusterhausen.

"Physik gelang dann soweit, dass auf Grund eines Abkommens mit dem RFT, das war ein Elektrounternehmen in der DDR, die haben dann Messgeräte entwickelt, die abtastbare Zeiger waren, so dass man eben wirklich auch das Voltmeter und das Amperemeter abtasten konnte und selbst eben dann Schaltungen vornehmen konnte, etwas gröberer Art, als es natürlich heute ist. Aber es konnten die Grundfunktionen wahrgenommen werden und deshalb kam es im Bereich Physik alsbald auch dazu, dass der gleiche Stoff verlangt wurde. Was hält einen Blinden ab, über die Boylschen Gesetze oder die Ohmschen Gesetze nachzudenken oder nicht nachzudenken im Vergleich zu einem Sehenden. Die anderen Fächer, die Naturwissenschaftlichen Fächer wurden dazu benutzt, um wirklich Denkvermögen, Konzentration und natürlich auch Verallgemeinerungen zu trainieren und da mitzuhelfen, in den anderen Fächern gute und sehr gute Leistungen zu erreichen."

Tasten und Lernen, Berühren und Gestalten gehört zu den zentralen kreativen Aufgaben
der Blindenschulen. Die Betroffenen werden befähigt, ihre Hände als Werkzeug zu benutzen, um ihre Umgebung besser zu begreifen. Vibrierende Objekte gehören in der Ausstellung dazu, die empfindsam machen für Bewegung. Sehgeschädigte können in die Vitrinen hineinfassen und die Exponate berühren – ein Konzept, das übrigens fast für das ganze Museum gilt. Fotos und Sportgeräte aus den 30er Jahren zeigen schließlich, wie Gymnastik, Schwimmen und Geräteturnen immer mehr zur Unterstützung eines Körperbewußtseins genutzt werden. Doch die Improvisation im Unterricht hat mit August Zeune, dem Begründer der ersten deutschen Blindenschule, begonnen.

Zu den herausragenden Objekten der Ausstellung in Berlin gehört eine lederne Weltkarte von 1880 mit einem Durchmesser von 1,70 Meter und der nach Zeuners Vorlage nachgebildete Reliefglobus aus den 30er Jahren ist eine Leihgabe aus dem Blindenmuseum Hannover.

"Er nannte das, damals war ja die Zeit der Kriege gegen Frankreich, in der Eindeutschung, was ja damals üblich war, einen 'Tast- Erdball', der wurde aus Gips gemacht. Er hatte erst Versuche mit Pappmaché gemacht und dann mit Gips und hat die weltweit vertrieben. Und war sehr glücklich, dass dieser Tast-Erdball es ermöglicht hat, dass Blinde oder schlecht sehende Menschen dann auch eine Ahnung von Geographie und der Oberfläche der Erde bekommen haben."

Mit dem Ersten Weltkrieg sollte sich die Situation ändern. Filme vermitteln in dieser Ausstellung, die uns Sehenden die Augen etwas weiter öffnet, jene Atmosphäre. Es gab nun, der Not gehorchend, eine umfangreiche Erweiterung der Industrie- und Büroarbeit für erblindete Menschen, wohl auch, weil die Familie eines Siemensdirektors unmittelbar betroffen war. Die Industrie entwickelte speziell gesicherte Maschinen.

"Das hat sehr stark damit zu tun, dass die Soldaten, die erblindet aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause kamen, eine ganz andere Interessenvertretung hatten mit ihren Familien oder auch politische Interessenvertretung, die dann darauf gedrängt haben, dass diese erblindeten Krieger nicht abgedrängt werden ins Blindenhandwerk, sondern in ihren alten Berufen weitermachen konnten oder entsprechende Berufe erlernen konnten. So gab es die Initiative bei Siemens für die Industriearbeiter und mit der Silex-Schule, nach dem Lazarettarzt Professor Silex nach dem Ersten Weltkrieg, dass man Büroarbeit unterrichtet und dass blinde Stenotypisten ihre Tätigkeit ausführen konnten."


Service:

Die Ausstellung "Fühlen, Hören, Sehen - 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland" ist bis zum 15. Oktober 2006 im Deutsches Technikmuseum Berlin zu sehen.