Mit dem Freihandel fing alles an

Von Jochen R. Klicker |
Am 25. März 1957 wurde mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge der Grundstein für die Europäische Gemeinschaft gelegt. Im Kern des Vertrages ging es den Unterzeichnerstaaten zunächst um die Bildung einer Zollunion. Aus den sechs Staaten sind mittlerweile 27 geworden. Doch der Weg zu einem geeinten Westeuropa war beschwerlich.
Adenauer: „Wir wollen uns sicherlich nicht Vorschusslorbeeren binden. Allzu viel an Aufgaben liegt noch vor uns. Aber der Freude darüber, dass es uns vergönnt ist, den großen Schritt zur Einigung Europas zu tun, der die Unterzeichnung beider Verträge dient, dieser Freude will ich doch Ausdruck geben. Denn diese Freude wird von Millionen und Abermillionen unserer Völker geteilt, die in diesem Augenblick im Geiste bei uns sind.“

Rom, am 25. März 1957. In Rom wurden die Verträge unterzeichnet, mit denen sich sechs westeuropäische Staaten verpflichten, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) zu gründen.

Diese sechs Länder sind – in alphabetischer Reihenfolge – Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande.

Bundeskanzler Konrad Adenauer triumphiert: Als überzeugter Europäer und zäher Verhandlungspartner hat er nur neun Jahre – neun harte Nachkriegsjahre! – gebraucht, um die Ära, die heute seinen Namen trägt, mit den römischen Verträgen zu krönen. Jetzt hat er Anlass zu jubeln … auch wenn es übertrieben ist, von „Abermillionen unserer Völker“ zu sprechen, die solche Freude teilen. Im Gegenteil: Europäische Politik war und ist bis heute überwiegend ein Glasperlenspiel, das nur ein paar Eliten zu spielen verstehen. Heute sind die Reihen der Europäer immer noch gezählt, die dem politischen Einigungswerk nach Gesetz und Geist wirklich zustimmen. Erst recht damals verstand die Mehrheits-Bevölkerung von Europa so gut wie gar nichts und äußerte sich – wenn überhaupt – nur pessimistisch.

Adenauer: „Ein Tag wie der heutige lässt es uns schmerzlich empfinden, dass es uns noch versagt ist, an einem vereinigten Europa als vereinigtes Deutschland teilzunehmen. Aber unsere Hoffnung ist ungebrochen. Auch die 17 Millionen, die gewaltsam von uns getrennt sind, gehören nach Abstammung, nach Kultur und Selbstbestimmung zu unserem Europa.“

So hatte aus Anlass der Unterzeichnung des römischen Vertragswerkes Bundeskanzler Adenauer seine erfolgreiche Politik bilanziert. Wer Ohren hatte zu hören, der hörte – gleichgültig ob ausgesprochen, umschrieben, angedeutet oder mitgemeint – dass für ihn die erste Etappe der deutschen Rückkehr in die internationale Völkerfamilie erfolgreich abgeschlossen worden war:

Die Bonner Politik setzte auf das Primat der Außenpolitik, um so schnell wie möglich wieder ihren Standort in der Weltpolitik einnehmen zu können.

Die Bonner Politik setzte dafür auf eine konsequente Westintegration und die Remilitarisierung der Bundesrepublik.

Nach innen hieß das Leitmotiv des Kanzlers, dass nur wachsender Wohlstand auf Dauer Stabilität und Sicherheit bewirken könne.

Weshalb er auf die Karten ständigen hohen wirtschaftlichen Wachstums, der sozialen Marktwirtschaft und des Freihandels setzte.

Im Übrigen vertrat er ideologisch einen trivial-populistischen Antikommunismus als Basis des Kalten Krieges, im Verbund mit einem pragmatischen Konservatismus, für den es keiner politischen Aufarbeitung des Nazi-SS-Staates bedurfte.

Auf der Strecke blieben der verfassungspolitische Konsens mit der politischen Alternative, den die Sozialdemokratie anzubieten hatte – nämlich das unbedingte Primat der deutschen Einheit. Dabei geriet auch die Wiedervereinigung als Ziel der Deutschlandpolitik mehr und mehr zur Worthülse. Und anstelle einer zukunftsorientierten Bildungs- und Wissenschaftspolitik galt das politische Interesse der Hausfrau, positiv! Und dem Intelligenzler, wie schon früher negativ!

Dem westdeutschen Nachkriegsbürger war das alles ziemlich piepe; war er doch emsig damit beschäftigt, seine neue Rolle zu lernen: Wunderkind zu werden im Wirtschaftswunderland.

Musik „Wir Wunderkinder“: „"Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und auch Räucherflunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder.
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik –
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.“

Adenauers persönliches Glück und Geschick lag daran, dass er schon vor der Gründung der Bundesrepublik vier persönliche Freunde gesucht und gefunden hatte, die seine politischen Vorstellungen weitgehend teilten. Der britische Kriegs-Premier Winston Churchill. Der italienische All-round-Minister und spätere Ministerpräsident Giulio Andreotti. Der französische Außenminister Robert Schuman und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle – alle vier europäische Wegweiser und Dispatcher. Für die Realisten legte Churchill schon mal vor.

Unter seiner eigenen politischen Devise „Die Zeit ist knapp. Der Kampf hat aufgehört. Aber es gibt neue Gefahren“ erklärt er im amerikanischen Fulton/Missouri am 5. März 1946 ganz ohne political correctness:

„”Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria ist ein Eiserner Vorhang quer über den Kontinent niedergegangen. Hinter dieser Grenzlinie liegen alle Hauptstädte der alten europäischen Staaten in Mittel- und Ost-Europa: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. All diese berühmten Städte und die Bevölkerungen in ihrer Nähe liegen in der sowjetischen Sphäre; und alle sind in der einen oder anderen Form nicht nur dem sowjetischen Einfluss unterworfen, sondern in einem hohen Maße auch der Kontrolle durch Moskau."“

Am 19. September 1946 legt er nach. In seiner Rede an die „Akademische Jugend von Zürich“ heißt es:

„Wir müssen etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Nur so können Hunderte von Millionen schwer arbeitender Menschen wieder die einfachen Freuden und Hoffnungen zurückgewinnen, die das Leben lebenswert machen. Das Verfahren ist einfach. Was wir benötigen, ist der Entschluss von Hunderten von Millionen Männern und Frauen, Recht statt Unrecht zu tun und als Lohn Segen statt Fluch zu lernen. … Um dies zu erreichen, bedarf es eines Glaubensaktes, an dem sich Millionen von Familien, die viele Sprachen sprechen, bewusst beteiligen müssen. Ich spreche jetzt etwas aus, was Sie in Erstaunen setzen wird: Der erste Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein! Nur auf diese Weise kann Frankreich die moralische Führung Europas wieder erlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland.“

Und dann empfiehlt er, schleunigst eine ständige europäische Versammlung zu schaffen – zunächst jedoch nur als Ideenforum für ein geeinigtes freies Europa. Aber aus diesem Impuls entsteht später der Europarat. Als deutlich wird, dass die neu entstehende Wirtschafts- und Waffenkraft der Deutschen nicht zu verhindern sein wird, schwenkt Frankreich ein und fordert nunmehr gemeinsame europäische Strukturen, um die Deutschen wirkungsvoll kontrollieren zu können.

Tatsächlich scheint es zunächst, als würde sich der Gedanke von einem geeinten Westeuropa politisch durchsetzen lassen. Aber wann und … viel wichtiger: Mit wem? In welcher Rolle?

Da liefert vollkommen unerwartet ausgerechnet der französische Außenminister selbst den spektakulären Auftakt für den Rollenwechsel. Am Nachmittag des 9. Mai 1950 gibt Robert Schuman im Uhrensaal des französischen Außenministeriums vor der geladenen Presse eine Erklärung ab.

Die ebenso überraschende wie hoffnungsvolle Kernbotschaft der Erklärung, die Teil des späteren Schuman-Planes werden wird, lautet:

„Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen. Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, … die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde (Haute Autorité) zu stellen. …Die Zusammenlegung der Kohlen- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. … Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.“
Schon im Juni 1950 beginnen in Paris erste Gespräche über den Abschluss einer europäischen Montanunion zwischen Frankreich, den Benelux-Staaten, Italien und der Bundesrepublik

Zwar ist es zunächst schwierig, sich vorurteilsfrei dem Gesprächsgegenstand – der rüstungspolitischen Bedeutung der Schwerindustrie – zu nähern. Aber die internationalen Pragmatiker halten strikt wirtschaftspolitischen Kurs, so dass tatsächlich im März 1951 der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) unterzeichnet und werden kann.

Großbritannien hält sich verärgert raus; Downing Street spricht unverhohlen von einer „Verschwörung gegen den britischen Handel“. Gefragt, ob die Kluft zwischen Ost und West, das neue Machtzentrum Westeuropa, ein Hindernis auf dem Weg zur europäischen Einigung sei, meint der französische Außenminister Schuman:

„Es handelt sich nicht um die Schaffung eines Machtblocks. Wir wollen eine Europäische Gemeinschaft – oder vielleicht europäische Teilgemeinschaft – bilden. Zu gemeinsamen Zwecken und gemeinsamen Aufgaben. Aber diese Gemeinschaft, die ist für jedermann offen. Das haben wir von Anfang an getan. Sogar für den atlantischen Pakt haben wir die Türe offen gelassen.“

Zur Nagelprobe in Sachen europäischer Teilgemeinschaft soll die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) werden, die von Anfang an einen Geburtsfehler hat: den überall in Europa grassierenden „Neuen Nationalismus“. Eine Europa-Armee wird die Europa- und Verteidigungspolitiker von 1951 bis 1954 in Atem halten und trotzdem am Ende scheitern. Im September 1954 meldet sich Frankreichs Botschafter in Bonn, André Francois-Poncet, nachdrücklich zu Wort. Und sicher nicht zufällig im RIAS Berlin, damals dem deutschsprachigen Sender der amerikanischen Besatzungsmacht in Berlin:

„Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG gibt es in Europa diesseits und jenseits der Grenzen eine Reihe von Menschen, die bereit sind, die Flinte ins Korn zu werfen; die sich anschicken, zusammen mit dem Kadaver der EVG die gesamte Idee einer europäischen Einigung, Verständigung und Organisation über Bord zu werfen. Diese Menschen sind bereit, einem tatsächlich vorhandenen oder auch nur vermuteten Nationalismus auf der anderen Seite ihrerseits einen noch stärkeren Nationalismus entgegen zu setzen und damit das alte Spiel wiederum zu beginnen, das schon so oft zu nichts Gutem geführt hat Das Spiel der beiden Ziegenböcke, die sich auf dem schmalen Steg über dem reißenden Gebirgsbach treffen und von denen keiner einen Schritt zurückgehen will, um den anderen vorbei zu lassen. Es geht nicht an, dass die Franzosen und die Deutschen sich unentwegt in nutz- und sinnlosen Familienstreitigkeiten zerfleischen. Es gibt darüber hinaus sehr viele Leute, die der wohlbegründeten Ansicht sind, dass zwischen Deutschen und Franzosen genügend Blut geflossen ist.“

Tatsächlich lassen sich die Wirtschaftspolitiker der sechs Vertragsstaaten der Montanunion auch nicht lange aufhalten bei ihrer Planung einer – will sagen: ihrer! – Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Unter ihnen geben zwei Technokraten, zwei Managertypen, diskret aber entschlossen den Ton an: Frankreichs Außenwirtschaftsexperte und Präsident der Hohen Behörde für Kohle und Stahl Jean Monnet sowie Belgiens Außenminister Paul-Henri Spaak. Vor allem Monnet fürchtet, dass nach dem Aus für eine gemeinsame Verteidigungspolitik auch die schon funktionierenden gemeinsamen Wirtschaftsstrukturen doch noch scheitern könnten. Ältere Brüsseler Bürokraten erinnern sich, dass die Insider damals fürchteten, die drohende Stagnation könne zum Anfang vom Ende werden. Darum müsse man gegensteuern und den Einigungsprozess in Gang halten. Eine einprägsame Eselsbrücke macht schnell die Runde:

Der europäische Einigungsprozess gleicht einem Fahrrad, das ständig bewegt werden muss, um nicht umzufallen.

Und auch ein passender politischer Begriff stellt sich bald ein:

Relance européenne, Wiederaufleben Europas.

Wir schreiben den Monat Juni 1955, als Paul-Henry Spaak und seine europäischen Getreuen, die sich im italienischen Messina getroffen haben, in groben Zügen beschreiben, was sie wollen:

„(Wir) glauben, dass die Zeit gekommen ist, eine neue Phase auf dem Weg zur Schaffung Europas einzuleiten. (Wir) sind der Ansicht, dass Europa zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet gebaut werden muss.“

Und dann folgten Vorschläge zu einem Maßnahmenkatalog, der im Prinzip auch im Jahre 2007 immer noch gilt:

Die Weiterentwicklung der schon bestehenden Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Die schrittweise Fusion der nationalen Wirtschaften. Die Errichtung eines gemeinsamen Marktes. Die schrittweise Harmonisierung der Sozialpolitik. Und die Verabredung einer Freihandelszone ohne mengenmäßige Beschränkungen und ohne jede Zollschranken zwischen den Partnerländern.

Und genau das wollen die Architekten des Vertragswerkes, dessen Erarbeitung seit der Gründung der Montanunion gut sechs Jahre bis zum Frühjahr 1957 dauerte. Jahre später wird sich der ehemalige Vizepräsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Fritz Hellwig, an diesen Spannungsbogen erinnern:

„In meiner Erinnerung an das Jahr 1957 möchte ich dieses Jahr als das erfolgreichste Jahr der Regierung Adenauer bezeichnen. Hierzu trugen die ersten konkreten Maßnahmen in der europäischen Integration wesentlich bei… Über den gelungenen Start der Montanunion hinaus wurden schon eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, ja auch eine europäische politische Gemeinschaft geplant. Die Ablehnung der Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung im Sommer 1954 gefährdete allerdings die erste Europäische Gemeinschaft: ‚Kohle und Stahl’ unter gemeinsamer Verwaltung war eine Teilintegration, ohne Kompetenzen auf den überlagernden Feldern allgemeiner Wirtschaftspolitik, der Währung, der Steuern, der Energiepolitik und so weiter zu haben. Das war eine Sackgasse.“

Darum bilden die Papiere, die am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet werden, im Kern den Vertrag für eine Zollunion. Zwischen den Sechs sollen Zölle und mengenmäßige Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren abgeschafft und gegenüber Drittländern anstelle der nationalen Tarife ein gemeinsamer Zolltarif eingerichtet werden. Der Gemeinsame Markt für Waren, Kapital und Arbeit jeder Art soll Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Unternehmer und Dienstleistungen gewährleisten. Die Handels-, Agrar-, Verkehrs- und Wettbewerbspolitik sollen vergemeinschaftet werden, und die Gemeinschaft erhält als erstes den Auftrag, die Konjunktur-, Wirtschafts- und Währungspolitik zu koordinieren, die Steuer- und Sozialpolitik zu harmonisieren, sowie auf eine Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften hinzuarbeiten. – Ähnliches betrifft auch die Atomenergie, für die sogar auf Grund ihrer strategischen Bedeutung für den Kalten Krieg und die Politik der Abschreckung nicht nur ein eigener Vertrag formuliert, sondern sogar auch eine gesonderte Behörde – EURATOM – gegründet wird.

1973 werden Dänemark, Großbritannien und Irland Mitglied der EWG, 1981 Griechenland. Trotz ihrer lang andauernden Startschwierig – noch zusätzlich erschwert durch wirtschaftliche Forderungen der USA, durch die politische Zurückhaltung von Großbritannien und das ideologische Trommelfeuer des osteuropäischen Comecon – erweist sich die praktische Arbeit der EWG bald als überwiegend positiv. Dazu Jahre später – nach einem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt – Luxemburgs Ministerpräsident Gaston Thorn, 1981 bis 1984 der Präsiden der Europäischen Kommission, mit einer ausgewogenen aber ehrlichen Bilanz:

„Im Moment geht’s viel langsamer, gibt’s viel mehr Krisen, die aber nicht durch die Gemeinschaft heraufbeschworen wurden und die nun mal existieren; und die eine Gemeinschaft der Zehn nun auch viel mehr verspürt wie früher als eine Gemeinschaft der Sechs bei guter Konjunktur. Man muss trotzdem sagen: Es gibt so viele Realisationen der Gemeinschaft, die nicht in Frage gestellt sind. Was ja an und für sich etwas Positives ist. Ich erinnere mich immer, als ich eines Tages mit dem Kanzler sprach und ich sagte, dass ich auch stürme und dränge gegenüber Helmuth Schmidt und immer sage, das muss noch geschehen und das … Da hat der Kanzler zu mir gesagt: Gaston, vor 20 Jahren, wenn man mir vorausgesagt hätte, in welcher Wirtschaftskrise wir heute sitzen würden, und hätte mir dann noch behauptet, die Gemeinschaft würde standhalten … ich hätte das nicht geglaubt. Nur leider hat man den europäischen Atem oder Elan nicht genügend ausgenutzt und muss man heute sehen, dass eine gewisse wirtschaftliche Integration nicht über einen gewissen Punkt automatisch hinweg geht, sondern politisch motiviert sein muss. Also kann man auch nicht sagen ‚eine wirtschaftliche Motivation, jedoch keine politische’ … man braucht die politische.“

Das klingt nun wirklich positiver als Willy Brands bitterer Spott, die Gemeinschaft sei nichts weiter als ein Verein von Krämern und Händlern. Doch tatsächlich vertraten die Beitrittskandidaten in den Beitrittsgesprächen vordringlich ihre wirtschaftlichen Interessen und kaum mehr. Erst in unseren Tagen wird mit der Türkei ausführlich und nachhaltig über vieles andere Politische und Kulturelle geredet – daran gemessen – wenig von drängenden Wirtschaftsfragen.

Und das sind – abgesehen mal von den Beitritten – die wichtigsten Etappen seit der gescheiterten Verteidigungsgemeinschaft von 1954 und der erfolgreichen Wirtschafts- und Atom-Gemeinschaft seit dem Jahr 1957:

Schon 1959 beginnt der Zollabbau innerhalb der Gemeinschaft. Hier kommt es zwar zum erwarteten Streit mit Großbritannien, aber prinzipiell haben die technokratisch denkenden Regierungsbeamten die Vorbedingungen vertraglich bereits so fest verankert, dass zügig an den Auf- und Ausbau von Zoll-Union und Freihandelszone gegangen werden kann.

1962 nimmt der Europäische Agrarfonds seine Arbeit auf. Er betrifft das Leben aller Bürger von Gemeinschaft beziehungsweise Union als ihr Nahrungsmittelproduzent. Die ökonomischen Schwierigkeiten der Bauern und Landwirte vieler nationaler Landwirtschaften haben zu unwürdigen Feilschereien zwischen den Mitgliedern von EWG beziehungsweise EU um Preise, Entschädigungen, Prämien und Quoten geführt

1967 beginnen der Rat und die Kommission als gemeinsame Organe der EWG mit ihrer leitenden Tätigkeit. Bis heute ein umstrittenes Konstrukt. Denn zwischen dem Rat als höchstem politischen Entscheidungsgremium und dem Europaparlament ist die Gesetzgebungskompetenz geteilt. Nur rund ein Viertel der Brüsseler Gesetzesvorhaben werden im Straßburger Parlament diskutiert und verabschiedet. Während drei Viertel aus dem Rat kommen, also – je nach Tagesordnung – von den Ministerpräsidenten oder den Fachministern aller Mitgliedsstaaten. Im Regelfall langfristig vorbereitet von den Europa-Bürokraten der Hohen Kommission. Erst nachdem das Europaparlament direkt gewählt werden darf – seit 1979 nämlich – ist Bewegung in den Kompetenzstreit gekommen, so dass jetzt wenigstens die vornehmste Aufgabe aller Parlamente – die Bewilligung und Kontrolle der Etats und damit auch der Brüsseler Eurokraten – von den gewählten Europa-Abgeordneten wahrgenommen wird.

1972 beginnt die außenpolitische Zusammenarbeit eher schleppend. Aber 1999 geschieht sozusagen ein „politischen Wunder“, indem es gelingt, in der Person des Spaniers Javier Solanas einen diplomatischen Egghead als Generalsekretär des Rates der Union zu gewinnen, der als Hoher Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Pionierarbeit leistet. Er hat es fertig gebracht, dass nunmehr neben den ständigen Mitliedern des UN-Sicherheitsrates auch die Europäische Union als „starke“ Macht beim internationalen Krisenmanagement mitwirkt

1975 regelt das Abkommen von Lome die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern. Im Klartext heißt das: Die ehemaligen Kolonien der EU-Mitgliedsstaaten bekommen einen weitgehend abgabefreien Zugang zum gemeinsamen Markt sowie zu den nationalen Märkten ihrer ehemaligen „Mutterländer“. Außerdem spielen Entwicklungshilfe und Technologietransfer in der Arbeit der Union eine wichtige Rolle. Immer wieder neu verhandelt werden jedoch die Liefermengen an Grundstoffen und Nahrungsmitteln.

1979 tritt das Europäische Währungssystem in Kraft Es regelt in den ersten Jahrzehnten den Wert und damit auch die Wechselkurse der einzelnen nationalen Währungen untereinander.
Das System hat den Mitgliedsländern aber später auch eine transnationale Bank beschert und ab 1999 – zunächst für die Zentral- und Geschäftsbanken – die Einführung des Euro durchgesetzt und abgewickelt.

Und im Februar 1992 erfährt die Gemeinschaft ihre größte Veränderung bisher: In Maastricht wird die Europäische Union geschaffen, in die zügig nun auch die Staaten der so genannten Osterweiterung – von Estland bis Bulgarien – eintreten. In den „Zielen“ der Union fordert man eine eigene Identität auf internationaler Ebene, die Einführung einer Unionsbürgerschaft und fast automatisch die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts.

Was weiter fehlt, das ist die gemeinsame Verfassung aller 27 Mitgliedstaaten. Die sich aber immerhin bis Mitte 2008 eine Phase des Nachdenkens eingeräumt haben. Eben für die Erarbeitung eines neuen Verfassungsentwurfes; und eines Planes P für MEHR Demokratie, Diskussion und Dialog innerhalb der Union!

Wenn nun in den nächsten Tagen unter deutschem Ratsvorsitz in Berlin der 50. Geburtstag der Römischen Verträge als dem eigentlichen take off der europäischen Einigung mit Frohsinn aber auch Nachdenklichkeit gefeiert wird, dann mag noch manches Defizit fortbestehen, wie es vor 50, vor 25, vor fünf Jahren vermerkt worden ist. Aber unter dem Strich gilt, dass die Europäer zwei Sorgen mit guten Gründen durch den Einigungsprozess selbst ausgeräumt haben: Sie sind nicht zum Verwaltungsobjekt transnationaler Behörden und Aufsichtsgremien geworden, sondern zu mündigeren europäischen Bürgern. Und sie sind nicht uniformer und uniformierter geworden, sondern haben gelernt, sich gegenseitig mit allen Unterschiedlichkeiten und Eigenheiten ernst- und anzunehmen. So wie sie es gelernt haben in einem nun schon Jahrzehnte andauernden allseitigen Dialog um den Kulturkontinent Europa. Mit seiner Vielfalt regionaler und nationaler Traditionen, Sprachen, politischer Kulturen und künstlerischer Symbolwelten. Dazu heißt es in einem Papier der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem etwas „groß geratenen“ Titel „Von Lernprozessen im Europa des Epochenumbruchs“:

Reden wir nicht mehr von Europäern, reden wir von Rätoromanen, Bayern, Katalanen, Engländern, Slowenen, Bretonen, Italienern, Samen und Ungarn.

Reden wir nicht von Lifestile. Reden wir vom savoir vivre, von der Lebensart, vom way of life, von der manier van doen, von der ars vivendi oder der maniera de vivir.

Reden wir nicht von der Massenkultur.
Reden wir von Brüsseler Spitzen, von den Beatles, von Armani, von Deux Chevaux, von den Salzburger Festspielen und der Neuen Zürcher Zeitung.

Reden wir nicht von Fußgängerzonen.
Reden wir von Boulevards und Ramblas, Lidos, Piazzas und Promenaden, von der Altstadt und vom Park

Reden wir nicht von Helden. Reden wir von Schwejk, Don Quichote, Till Eulenspiegel, Pippi Langstrumpf, Wilhelm Tell, Arlecchino, Oblomow, Asterix, Robin Hood und Leutnant Gustl.

Reden wir nicht von Politikern. Reden wir von Räuber und Gendarmen, von gentlemen und players, von Denkern und Dichtern, von Hofräten und Proleten, von Bauern und Baronen, von Huren und Madonnen.

Reden wir nicht von Europa. Reden wir von der Dordogne, von der Costa del Sol, vom Ruhrpott und von den Poldern, von der Toscana, der Puszta und den Fjorden, vom Engadin, den Highlands und der Wachau.

Reden wir nicht von Harmonisierung und Euro-Multis. Reden wir vom politischen Diskurs, vom eigensinnigen Individuum und von selbstbewussten Assoziationen, von grenzüberschreitender Freizügigkeit, von konkreten Entwicklungsprojekten, von der Wahrung kultureller Identitäten und vom Nutzen des Erfahrungsaustausches zwischen West und Ost, Nord und Süd.

Reden wir nicht vom Nabel der Welt, reden wir von der Welt.

Reden wir also vom gemeinsamen Lernprozess Europa.