Mit dem Akkordeon auf Wörtersuche

01.07.2009
Die Gedichte der 1981 in Minsk geborenen Lyrikerin Valzyna Mort handeln von ihrer Heimat, der weißrussischen Sprache - und dem Akkordeon, ihrem Lieblingsinstrument. Denn die Musik, so schreibt sie im Nachwort zu ihrem neuen Buch "Tränenfabrik", wisse immer "einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus, was ich suche".
In den letzten Jahren hörte man häufiger die These, dass die jungen Schriftsteller in Osteuropa viel eher als diejenigen im Westen mit den alten literarischen Fragen beschäftigt seien, mit dem Gegensatz von Ich und Welt etwa und einer Auseinandersetzung mit biografischen und politischen Brüchen. Einen Beleg dafür könnte man auch jetzt wieder in den Gedichten von Valzyna Mort finden. Die 1981 im weißrussischen Minsk geborene Lyrikerin verblüfft durch eine mal pathetisch aufgeladene, mal ironisch gebrochene, aber immer wieder poetisch eigene und faszinierende Sprache, in der sich die zeitgenössischen Umbrüche widerspiegeln, die diese Umbrüche aber auch in überraschende neue Bilder verarbeitet. "Die weißrussische Sprache" - diesen Titel tragen gleich zwei Gedichte, eines am Anfang und eines gegen Schluss. Es sind zwei Variationen zum selben Thema.

Das Charakteristische dabei ist, dass Valzyna Mort die weißrussische Sprache erst relativ spät gelernt hat, ihre Muttersprache ist Russisch. In der Zeit der Sowjetunion war das Russische hegemonial, das Weißrussische wurde nicht sonderlich ernst genommen. Es war auch in der weißrussischen Hauptstadt Minsk keinesweges die Schrift- und Kultursprache. Erst nach dem Ende der Sowjetunion diente es - ursprünglich die Sprache des niederen Volkes - als Beglaubigung der eigenen Staatswerdung, einer eigenen Nation. In diese Zeit ist Valzyna Mort hineingewachsen, und deswegen ist das Weißrussische für sie ein widersprüchliches Konstrukt aus Emanzipation und Einschränkung:

"wir wurden groß in einem lande wo
man erst die türen mit kreide markiert
und nachts dann zwei, drei wagen vorfahren
und uns holen aber
in diesen wagen saßen keine männer
mit mgs
und nicht der gevatter tod
aber die liebe kam so zu uns
uns zu holen"

Weißrussland gilt heute als der letzte offen-totalitäre Staat in Europa. Valzyna Mort lebt zurzeit in Washington DC. Sie hat auf mehreren internationalen Lyrikfestivals bereits auf sich aufmerksam gemacht, ihre Auftritte sind Performances, in denen die Artikulation, die Rhythmisierung, die Musik eine große Rolle spielt. Das Weißrussische wird zum Symptom einer globalisierten Einsamkeit:

"diese sprache existiert nicht,
sie hat nicht einmal ein system.
ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich -
sie schlägt einem sofort in die fresse."

Zu einem vielschillernden poetischen Symbol wird für Valzyna Mort das Akkordeon, das sie bei ihren Lesungen gelegentlich auch spielt. In ihrem extrem verdichteten, faszinierenden Nachwort zu ihren Gedichten umkreist sie dieses Instrument als Inbegriff des Lyrischen. Die weißrussische Sprache wirkt nicht in erster Linie als Sprache, sondern sie besetzt den Platz der Musik. Sie weiß "einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus, was ich suche". Der Blasebalg vermittelt zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, er vermittelt zwischen Sprache und Körper. Der Blasebalg kennt alle Gefühlswelten, zwischen Gewalt und Zärtlichkeit. Valzyna Mort bespielt genau diesen geheimnisvollen Zwischenraum zwischen Sprache und Körper, sie nähert ihre Lyrik dem Ideal an - der Musik.

Besprochen von Helmut Böttiger

Valzyna Mort: Tränenfabrik. Gedichte
Aus dem Weißrussischen von Katharina Narbutovic
Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009
86 Seiten, 10 Euro